Erstens fehlt vielen modernisierungstheoretischen Ansätzen eine Akteurperspektive.46 Individuen und kollektive Akteure (wie Gruppen und Organisationen) kommen in diesen Theorien einfach nicht vor; stattdessen ist die Rede von abstrakten Prozessen wie «Differenzierung», «Sozietalisierung», «Pluralisierung», die |24| sich in letztlich nicht geklärter Weise gegenseitig beeinflussen sollen. Dobbelaere bringt dies auf den Punkt, wenn er schreibt:
«Too little attention has been paid to the question of just which people in just which social positions became the ‹sacralizers› or the ‹secularizers› in given situations […] Laicization is not a mechanical process to be imputed to impersonal and abstract forces.»47
Zweitens (und mit dem ersten Punkt zusammenhängend) fehlen den modernisierungstheoretischen Ansätzen klare Vorstellungen über die genauen kausalen Mechanismen, die ihre Erklärung voraussetzt. Solche Mechanismen müssten angeben, wie genau gesellschaftliche Bedingungen die Situation von individuellen und kollektiven Akteuren beeinflussen, aufgrund welcher Interessen, Ressourcen, Glaubensüberzeugungen usw. diese Akteure im Anschluss daran handeln und welche gewollten und ungewollten Effekte sich hieraus ergeben. Nur eine Theorie, die in dieser Weise Makro-, Meso- und Mikrophänomene durch kausale Mechanismen verbindet, ist wirklich erklärend. Stattdessen finden wir bei den meisten modernisierungstheoretischen Ansätzen relativ allgemeine Aussagen über Zusammenhänge von Makroprozessen. Smith formuliert diesen Kritikpunkt folgendermassen:
«A […] problem with secularization theory is that scholars in this tradition often under-specify the causal mechanisms that are presumed to link the social factors that are claimed to have transformed the role of religion in public life with the secularization outcome.»48
Drittens schliesslich führen die beiden genannten Punkte dazu, dass modernisierungstheoretische Ansätze oft relativ abstrakt bleiben, nur schwer mit den konkreten historischen Geschehnissen in Verbindung gebracht werden können und insbesondere nicht in der Lage sind, die grossen historischen, regionalen und nationalen Unterschiede zu erklären. So kritisiert der Historiker Mark E. Ruff an den soziologischen Säkularisierungstheorien:
«[…] these debates have operated with a host of weaknesses. They have consistently lacked a sound empirical basis and have frequently bordered on the ahistorical. […] Most importantly most of the theorists of secularization from the 1960s and 1970s |25| applied these processes indiscriminately to almost all European nations, regardless of differing national and religious traditions.»49
Wir werden später eine eigene Theorie vorstellen, die versucht, diese Probleme besser zu lösen. Zuvor ist jedoch noch die von Thomas Luckmann formulierte Kritik gegenüber der Säkularisierungstheorie zu erörtern.
Theorie der Individualisierung und spirituellen Revolution
Bereits Ende der 1960er Jahre publizierte Thomas Luckmann sein Buch «Die unsichtbare Religion»50, worin er die Säkularisierungstheorie scharf kritisierte. Der eigentliche Fehler der gesamten Klassiker, vor allem aber der zu seiner Zeit starken Kirchensoziologie, liege, so Luckmann, in einer zu engen Definition des zu erklärenden Sachverhalts.
«Was für gewöhnlich bloss für ein Symptom für den Rückgang des traditionellen Christentums gehalten wird, könnte Anzeichen für einen sehr viel revolutionäreren Wandel sein: die Ersetzung der institutionell spezialisierten Religion durch eine neue Sozialform der Religion. Eines lässt sich mit Sicherheit sagen: Die zu einem ‹offiziellen› oder einst ‹offiziellen› Modell der Religion erstarrten Normen der traditionellen religiösen Institutionen können nicht mehr als Gradmesser zur Einschätzung der Religion in der modernen Gesellschaft dienen.»51
Der Fehler der Säkularisierungstheorie bestehe also gemäss Luckmann darin, Religion zu eng zu definieren. Hierdurch, so Luckmann, bekämen die Modernisierungstheoretiker nur einen Niedergang in den Blick und würden blind für andere religiöse Formen, die die alten Formen ersetzen. Würden etwa Historiker «politische Organisation» zu eng als «Königtum» definieren, so wäre im Verlauf der letzten Jahrhunderte ein ständiger Niedergang der «politischen Organisation» zu beobachten gewesen – ohne dass der Aufschwung der totalitären Regimes und der Demokratien als neue Formen von politischer Organisation in den Blick gekommen wäre.52 In Wirklichkeit hätten wir es also, so Luckmann, nicht mit einem Niedergang, sondern mit einer Veränderung der Religion und Religiosität in modernen Gesellschaften zu tun. Zwar schrumpfe das «offizielle Modell» mit seinen |26| «erstarrten Normen» – d. h. also traditionelle Kirchlichkeit. Aber diese Form würde durch individualisierte, frei wählbare neue Spiritualitätsformen ersetzt. Worin diese neue Spiritualität genau besteht, wird bei Luckmann allerdings nicht völlig ersichtlich. An einer Stelle spricht er davon, dass Ratgeberseiten, positives Denken im «Playboy» oder Popmusik-Lyrik Elemente letzter Bedeutung enthielten.53 An anderer Stelle meint er, Themen rund um das Individuum und seine Autonomie (wie Selbstverwirklichung, Familialismus, eigene Sexualität) seien religiös aufgeladen.54
Luckmanns Argumentation – zusammen mit dem eingängigen Buchtitel von der unsichtbaren Religion – inspirierte ganze Generationen von Religionssoziologen und Religionswissenschaftlerinnen dazu, an diversen, z. T. kontra-intuitiven Orten nach «unsichtbarer» (und durch die Forschung sichtbar zu machender) Religion zu suchen.55 Hierbei können wir drei grössere Varianten unterscheiden. Eine erste Gruppe von Forschern sieht die unsichtbare Religion in diversen Phänomenen, die der Common Sense nicht unbedingt mit Religion in Verbindung bringen würde, die aber aus der Sicht der Wissenschaftler/innen ebenso ein «Bedürfnis nach letztem Sinn» oder nach «Ritual» abdecken. Gemäss der These der religiösen Dispersion von Hans-Joachim Höhn hat sich Religion in verschiedene kulturelle Versatzstücke der modernen Gesellschaft wie Fussball, Werbung, Fernsehen hinein verlagert.56 Der stark von Luckmann beeinflusste Hubert Knoblauch spricht in diesem Zusammenhang von populärer Religion.57 Eine zweite Variante besteht darin, die unsichtbare Religion in bisher weniger beachteten Elementen der traditionellen Religiosität zu sehen. Zwar, so diese Autoren, sinke die beobachtbare religiöse Praxis und die Verbindung zu den Kirchen. Aber die Leute hielten doch an ihrem Glauben fest. Dies ist die berühmte These des «Believing without belonging» von Grace Davie.58 Eine andere Form dieses «Believing without belonging» kann in der These von Roland Campiche einer «Dualisierung der Religion» gesehen werden.59 Zwar sinke die institutionelle Religiosität – aber eine universale Religiosität (die v. a. allgemeine Werte beinhaltet) bleibe bestehen. Eine |27| dritte Variante sieht die «unsichtbare Religion» in Phänomenen, die heute oft «New Age» oder «alternative Spiritualität genannt werden. Paul Heelas und Linda Woodhead haben gar von einer «spirituellen Revolution» gesprochen.60 Die kirchliche Religiosität würde langfristig durch Phänomene wie Astrologie, Yoga, Channelling, Engelsglauben, Kristall-Heilungen usw. ersetzt oder verwandle sich unmerklich in eine solche.61
Auch die Individualisierungstheorie ist scharf kritisiert worden. Zwar kann kein Zweifel daran bestehen, dass in den letzten Jahrzehnten in den westeuropäischen Ländern so etwas wie eine «Individualisierung» stattgefunden hat.62 Die Frage ist aber, wie sie Religion genau beeinflusst. Hier hat die Kritik sowohl empirische als auch theoretische Einwände geltend gemacht. Empirisch haben verschiedene Arbeiten gezeigt, dass es keine scharfe Trennung der Entwicklung von Believing und Belonging gibt63 und dass der Aufschwung der sogenannten alternativen Spiritualität den Niedergang der institutionellen Kirchlichkeit bei Weitem nicht aufwiegt. Von einer «spirituellen Revolution» kann also keine Rede sein.64 Theoretisch haben Kritiker bemängelt, dass Luckmann und seine Nachfolger Religion zu weit definieren. In der Folge kann so gut wie alles zu Religion werden, wodurch das Konzept jegliche Trennschärfe verliert. Rein aufgrund der Definition ist es dann nicht mehr möglich, eine «Abnahme» oder «Zunahme» von Religion zu beobachten.
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