Der „deutsch-deutsche Schäferhund“ geisterte also seit dem Frühjahr 2016 durch Online-Medien und die deutsche Presse. Während die Wissenschaftsparodie von Alan Sokal vor 20 Jahren wie auch der jüngste Science-Hoax von Peter Boghossian zum „konzeptionellen Penis als sozialem Konstrukt“ 47ausführliche Debatten nach sich zogen, hat der Hunde-Hoax, innerhalb der Geschichts- und Geisteswissenschaften bislang zu wenig Resonanz gefunden. Das ist erstaunlich, fordert die frei erfundene Studie Historiker*innen und andere Geisteswissenschaftler*innen doch gleich in mehrfacher Hinsicht heraus. Nach zahlreichen Gesprächen der Herausgeber mit Beteiligten und Interessierten gelangten wir zu der Ansicht, dass zu diesem Hoax noch lange nicht alles gesagt ist, dass er vielleicht nur einen Aspekt innerhalb eines übergreifenden Problemhorizontes abbildet und dass ihm eine virulente Bedeutung im Hinblick auf die gegenwärtige akademische Praxis zukommt: Auf dem Prüfstand stehen nicht nur wissenschaftlichen Qualitätsstandards und kritische Urteilskraft, sondern auch das Verhältnis der Geschichtswissenschaft zu ideologisierten Deutungen der Vergangenheit sowie die innerfachliche Debattenkultur. Die Herausgeber haben sich anlässlich des Hoaxes durch unzählige Seiten des jungen Forschungsfeldes gelesen. Sie haben viel gelernt, interessante Forschungsfragen und neue Perspektiven wahrgenommen, aber auch etliche mindestens halbgare Dinge gelesen und solche, die tatsächlich wie eine Wissenschaftsparodie wirken. Zudem beschlossen die Herausgeber, einen Workshop zu organisieren, der am 28. Oktober 2016 an der TU Berlin stattfand. 48Dazu mochte oder konnte keine/r der etwa zwei Dutzend angefragten HAS-Vertreter*innen erscheinen. Wenige versicherten glaubhaft, dass es tatsächlich terminlich nicht klappte, doch die meisten beantworteten nicht einmal unsere Anfrage. 49Dies verwundert insofern, als immer wieder herausgestellt wird, welch innovativen und für eine zeitgenössische Gesellschaft unverzichtbaren Leitideen die HAS repräsentierten. Wäre dem so, und sie hätten diese immense Innovations- und Anziehungskraft, stellt sich die Frage, warum niemand kam, um für seine wissenschaftlichen Positionen einzustehen und zu werben. Umso erfreulicher ist, dass Markus Kurth vom gehoaxten Chimaira AK sich bereit zeigte, einen Beitrag für dieses Buch beizusteuern. Zudem erhielten wir die freundliche Erlaubnis, nicht nur Interviews von „Christiane Schulte“ und dem Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk, sondern auch von Aiyana Rosen, Helen Keller und dem genannten Markus Kurth vom Chimaira AK mit sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung abzudrucken.
Wenn diese Publikation manchen Lesern also insgesamt etwas „einseitig“ vorkommen mag, so liegt das nicht in der Absicht der Herausgeber, sondern vor allem an dieser Konstellation. Natürlich hatten wir Organisatoren auch Forscher*innen aus zahlreichen anderen Disziplinen angesprochen und eingeladen: aus den Geschichtswissenschaften, Politologie, Literaturwissenschaft, Biologie, Ethnologie, Soziologie und Wissenschaftssoziologie, Metropolitan Studies und Philosophie. Denn schließlich wollten wir kein Tribunal inszenieren oder gar Häme zeigen, sondern den Raum für eine offene und kontroverse Debatte öffnen. Es trafen dann 40 Menschen jeglichen Geschlechts zusammen und diskutierten angeregt auf drei Panels – meist im Fishbowl-Format – auf einem interessanten Workshop, der von einer anregenden Podiumsdiskussion abgeschlossen wurde.
Fokus und Aufhänger des Hoaxes sind die erwähnten HAS. Auch wenn jüngst der Versuch des Kulturwissenschaftlers Thomas Macho, den Bereich Animal Studies an der Berliner Humboldt-Universität zu etablieren, zurückgewiesen wurde 50, gibt es inzwischen zwei thematisch zugeschnittene Professuren in Deutschland und ein erstes Textbook für Lehrende und Studierende im UTB-Verlag. 51Die HAS, die zu einem Feld gehören, das sich mitunter selbst als „more-than-human social sciences“ bezeichnet 52, scheinen sich – so der Eindruck der Herausgeber – zu etwas wie dem Katzencontent der jüngeren, postmodern und kulturalistisch erweiterten Geistes-, Gesellschafts- und Sozialwissenschaften zu entwickeln. 53Wer im World Wide Web unterwegs ist, kommt um „Cat Content“ kaum herum. Die LOLcats etwa gehören zu den verbreitetesten Internet-Memen– „millionenfach kopierte Fotos von Katzen, denen durch eingefügte Schrift menschliche Sätze mit einer eigenartigen Grammatik in den Mund gelegt werden.“ 54Ähnliches – Menschen legen Tieren eine Botschaft in Maul, Schnauze oder Schnabel – scheint häufig auch für die HAS zu gelten. Auch eine eigene Sprache entwickelt sich im Mikrokosmos dieses akademischen Feldes, die aus „tierisch“ „tierlich“ werden, durchweg von „nichtmenschlichen Tieren“ hören lässt, mit Jacques Derrida von „an-humain“ oder „l‘animot“ spricht, letzteres ein Neologismus, gebildet aus l’animal (Tier) und le mot (Wort), oder von Prädomestizität, Domestizität und Postdomestizität (Richard Bulliet) oder „Naturecultures“ (Donna Haraway).
„Das Internet ist eine Katze“, behauptet zwar der Schriftsteller Peter Glaser 55, doch, so der subjektive Eindruck der Herausgeber sind Katzen in den HAS bislang ausgesprochen wenig vertreten 56, Hunde hingegen das mit Abstand beliebteste Objekt der Aufmerksamkeit im Feld der jungen Disziplin 57, wahrscheinlich dicht gefolgt von Pferden 58. Die Herausgeber hatten den Workshop noch „Auf den Schäferhund gekommen“ genannt, sahen aber davon ab, das Buch mit demselben Titel zu versehen, stellte sich doch heraus, dass das Wortspiel nach der inflationären Verwendung in den HAS bereits ziemlich verschlissen ist. 59Wortspiele sind beliebt: So ist schon in Anlehnung an die Human Condition von einer „Canine Condition“ die Rede. 60Es gibt Plädoyers für eine „Hunde-Epistemologie“ 61– etwas, das die Organisatoren bei der Planung der Tagung ebenfalls noch nicht wussten, als sie zum Scherz die „Schäferhund-Hermeneutik“ in einem Paneltitel unterbrachten. Entsprechend bestürzend war es, später zu lesen, dass die “canine epistemology” im Werk Virginia Woolfes “the dominant empirical epistemology of the period” unterbreche, “allowing readers to experience animal alterity as a non-empirical mode of knowing”. 62
Rezensenten sprechen von einem Boom. 63Es sei „eine explosionsartige Ausbreitung von Aufsätzen, Zeitschriften und Konferenzen“ zu konstatieren, heißt es in „Der Zeit“. 64Schon ist die Rede vom „animal turn“ 65, der das „Proletariat durch Tiere“ 66ersetze oder zumindest die marxistisch gedachte Arbeiterklasse um Tiere zu erweitern gedenke. 67Auch ein konservativer Philosoph wie Peter Sloterdijk spricht von einer „unvermeidlichen Ausbeutungsverschiebung des Fossilenergiezeitalters“, die „ein neues Proletariat geschaffen [habe], mit dessen Leiden die entlasteten Zustände im [menschlichen, d. Verf.] Wohlstandspalast ermöglicht“ würden. Er schließt an: „Das Hauptgewicht der aktuellen exploitation ist auf die Nutztiere übergegangen, für welche dank der Industrialisierung der Landwirtschaft die Ära ihrer massenhaften Erzeugung und Verwertung angebrochen ist.“ 68Selbst Fragen, ob Tiere aus emanzipations-historischer Sicht die „neuen Frauen“ 69oder gar „die besseren Menschen“ 70seien, werden bereits gestellt. Der US-amerikanische Gender- und Queer-Theoretiker Jack Halberstam plädierte unlängst dafür, das Wort „queer“ durch das Wort „wild“ zu substituieren, weil ersteres allzu domestiziert sei, und stattdessen von „wild theory“ zu sprechen. 71
Der Schäferhund-Hoax steht in einer langen und wichtigen Tradition von Wissenschaftshoaxes, die an dieser Stelle nicht eingehender gewürdigt werden können. Es sei an den Hänsel-und-Gretel-Hoax von Hans Traxler oder an den Randi-Hoax erinnert. 72Weitere ähnlich angelegte negative Science Hoaxes waren: der „Mechanical Turk“, Schachtürke oder kurz Türke. Er ist die umgangssprachliche Bezeichnung für einen vorgeblichen Schachroboter, der 1769 von dem österreichisch-ungarischen Hofbeamten und Mechaniker Wolfgang von Kempelen konstruiert und gebaut wurde. „Beavers on the Moon“ war der große Astronomie-Hoax des Jahres 1835. 73Shinichi Fujimura, ein japanischer Amateurarchäologe, nahm für sich in Anspruch, eine Vielzahl von Artefakten aus dem jungen und mittleren Paläolithikum entdeckt zu haben. Die Funde erwiesen sich im Jahr 2000 als Fälschungen. „The Piltdown Man“: unter diesem Namen wurden die angeblichen Überreste eines Frühmenschen bekannt, die vor 1912 in einer Kiesgrube bei dem Dorf Piltdown in der Nähe von Uckfield in Südostengland gefunden und 1953 als wissenschaftliche Fälschung entlarvt wurden. Der wichtigste Hoax, an den sich der Schäferhund-Hoax anlehnen kann, wurde von Alan Sokal inszeniert. 1996 sorgte der New Yorker Physiker für ein Beben in der akademischen Welt. In der renommierten Zeitschrift „Social Text“ kündigte er nicht weniger als eine „kulturalistische Wende in der Physik“ an. Sein Essay trug den Titel „Trangressing the Boundaries: Towards a Transformative Hermeneutics of Quantum Gravity“. 74Er nahm darin gekonnt aktuelle Trends, Thesen und Duktus der kulturalistisch gewendeten Geistes- und Sozialwissenschaften auf und schien damit eine Brücke zwischen den beiden „Wissenschaftskulturen“ geschlagen zu haben. Er schrieb etwa:
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