Soweit bekannt, fühlten sich mindestens zwei Personen angespornt, mit satirisch gemeinten Papers ins Rennen zu gehen. Der Berliner Zeithistoriker Florian Peters schlug einen Vortrag mit dem großspurigen Titel „Freie Liebe im Schatten der Mauer: Das staatssozialistische Mensch-Tier-Verhältnis aus der Grenzperspektive der Wildkaninchen“ vor. Peters, der auch als Autor in diesem Band vertreten ist, zog dafür ausschließlich tatsächlich verfügbares kulturhistorisches Quellenmaterial heran, vermischte aber bewusst Formulierungen zu „Eigen-Sinn“ und Agency mit solchen aus dem interpretativen Totalitarismus-Kosmos des Forschungsverbunds SED-Staat bzw. des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung (HAIT). Dass Peters diese eigentlich gegensätzlichen Interpretationsmuster in seinem Vortrag unbekümmert miteinander verband und überdies betont leger gekleidet zu dem Workshop erschien, erregte jedoch keinerlei Anstoß.
Auch „Christiane Schulte“ und ihr Team wurde wohl aus dem Geiste dieses Call for Papers geboren. Sie bauten ihren Beitrag nach einem ähnlichen Muster wie Peters, erfanden aber Quellen und Zitate. Beispielsweise postulierte „Schulte“ eine „zentrale Bedeutung der Human-Animal Studies für die neuere Totalitarismusforschung“, weil sie „den Nachweis einer tierischen Eigenlogik, vielleicht sogar eines ‚Eigensinns‘ im Sinne von Alf Lüdke, die Grenzen des Totalen aufzeigen“ könne. Der Text ist eine einzige Aneinanderreihung von Oxymora wie: „Gerade im Sinnbild des DDR-Totalitarismus, den Grenzanlagen an der Mauer“, zeige sich die Unmöglichkeit der totalen Kontrolle über Mensch und Tier. 35Der Workshop umfasste insgesamt acht Vorträge, die auf der Basis von vorab zirkulierten Papers diskutiert wurden. So wie an anderer Stelle völlig ernstgemeint die Handlungsmacht eines Regenwurms erforscht wird, so fragten die beiden nach der Agency von Häschen und Hunden. Ironischerweise fanden sich die Satiriker sogar gemeinsam auf einem Panel wieder, wo sie ihre Beiträge unter der Überschrift „Grenztiere“ unter das akademische Publikum brachten.
Anett Laue, von der gleichfalls der Call for Papers stammte, schrieb im Tagungsbericht, in dem sie neben ihrem eigenen Beitrag 36gerade auch die beiden Wissenschaftsparodien herausstellte, Peters habe versucht, „die besondere Bedeutung der Kaninchen für die DDR-Gesellschaft herauszuarbeiten“. Die Grenzkaninchen seien zur „Projektionsfläche zahlreicher künstlerischer Auseinandersetzungen“ geworden, was ihre „Relevanz [...] für die DDR-Gesellschaft“ belege. „Schulte“ wiederum habe „weitreichende Kontinuitäten“ totalitärer Staatsgewalt „aufgedeckt“ und eindrucksvoll die These belegen können, „dass trotz des eingeschränkten Handlungsspielraums der ‚Kettenhunde‘, jene durchaus „eigensinniges Verhalten“ an den Tag“ gelegt hätten, das dem Grenzregime zuwidergelaufen sei. Auf dem Podium sei „eine Debatte über die DDR-Gedenkkultur“ geführt worden. Im Tagungsbericht heißt es dazu: „So gibt es in Berlin etwa einen Erinnerungsort für die Grenzkaninchen. Die zahlreichen Grenzhunde haben hingegen (noch) keinen Eingang in eine umfassende Erinnerungskultur der innerdeutschen Grenze gefunden.“ Daran habe sich „eine eingehende Diskussion über Schäferhunde als ‚Mittäter‘“ angeschlossen, über deren Erträge sich der Tagungsbericht aber ausschweigt.
In der Abschlussdiskussion wurden die Schulteschen „Napfsoldaten“ noch einmal zum Thema: Das „Beispiel des Deutschen Schäferhundes“ habe exemplarisch belegt, dass die DDR-Historiographie „durch einen diachronen Forschungsansatz profitieren“ könne. Die „Perspektiverweiterung“ durch die HAS biete
„eine Möglichkeit [...], die DDR-Forschung aus der wissenschaftlichen Sackgasse zu führen. Die Betrachtung von gesellschaftlichen Mensch-Tier-Beziehungen könnte Forschungslücken füllen, neue Erkenntnisgewinne erzielen und vermeintliche Fakten und Interpretationen der historischen Wirklichkeit der DDR neu bewerten“. 37
Enrico Heitzer, Mitherausgeber dieses Bandes, kamen die vorgeblichen Befunde „Schultes“ hingegen merkwürdig vor, seit er von ihnen erfahren hatte. Darüber hinaus irritierte ihn, dass die vermeintliche Doktorandin an keiner deutschen Universität bekannt war. Über die Workshop-Veranstalter*innen nahm er schließlich Kontakt mit der web.de-Adresse der ominösen Nachwuchswissenschaftlerin auf, wurde aber auf die vorgesehene Publikation in der Zeitschrift „Totalitarismus und Demokratie“ vertröstet. Seine Reaktion auf den Text, den er für den ernst gemeinten Beitrag einer unerfahrenen Forscherin hielt, die sich in den Totalitarismus- und Unrechtsstaatsdebatten zur DDR verirrt hatte, teilte er verschiedenen Kollegen in einer Mail mit: Darin beschreibt er, dass er sich „beim ersten Lesen an einigen besonders absurden Stellen vor Lachen gebogen“ und den Text stellenweise als „Persiflage auf einen geschichtswissenschaftlichen Aufsatz“ empfunden hatte. Besonders die für die Argumentation zentrale Kontinuitätsbehauptung zwischen dem Einsatz von identischen bzw. direkt voneinander abstammenden Wachhunden in NS-Konzentrationslagern, in sowjetischen Speziallagern und bei den DDR-Grenztruppen konnte er nicht nachvollziehen, hätte sie doch selbst mit den von „Schulte“ gefälschten Quellenangaben in der entsprechenden Fußnote auf einer empirisch ziemlich dünnen Grund gestanden. Ohne die angeführten Quellen grundsätzlich in Frage zu stellen, kam Heitzer zu dem Schluss: „Schaut man sich dann aber mit einem zweiten Blick die zentralen Passagen genauer an, kommt man schnell dahinter, dass die Autorin letztlich ziemlich unredlich agiert, um ihre zentrale These zu untermauern“. Die weitreichenden Schlussfolgerungen des Aufsatzes über den Hundeeinsatz an der deutsch-deutschen Grenze bewertete er als von bisherigen Untersuchungen völlig unbeeindruckte Spekulationen. 38Als nächsten Schritt bot „Schulte“ ihre „Forschungen“ der Zeitschrift Totalitarismus und Demokratie zur Veröffentlichung an. Folgt man den Angaben der anonymen Satiregruppe „Christiane Schulte & Freund_innen“, nahm die von dem stellvertretenden Institutsdirektor Uwe Backes geleitete Redaktion der Hauszeitschrift des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung (HAIT) in Dresden den Beitragsvorschlag aber innerhalb „weniger Tage“ mit einer überschaubaren Anzahl von Änderungswünschen zur Publikation an. 39
Er sei ein „Riesenrhinozeros“, das jetzt an der Leine durch die Manege geführt werde, soll Backes gesagt haben, als er von einem Journalisten auf den liebevoll gefälschten Aufsatz angesprochen wurde, der über seinen Schreibtisch – den Text haben Kollegen und auch der Institutsdirektor ebenfalls gekannt 40– schließlich den Weg in die Hauszeitschrift gefunden hatte. 41
Dem war vorausgegangen, dass im Februar 2016 „Christiane Schulte“ in einem digitalen Bekennerschreiben den gesamten Vorgang offen legte. 42Unmittelbar darauf folgte Peters. 43Trotzdem zwei von acht Vorträgen auf einer Tagung satirische Fälschungen waren, versuchte in der Folge die HAS-Community stillschweigend zur Tagesordnung überzugehen. Der Chimaira Arbeitskreis für Human-Animal Studies (Chimaira AK), der das unmittelbare Opfer des Hoaxes geworden war, reagierte mit der trotzigen Behauptung, der Beitrag sei keinesfalls als eleganter Unsinn erkennbar gewesen, schließlich sei „[w]eiterhin […] bisher weder bewiesen noch widerlegt, dass Wachhunde aus der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) nicht von KZ-Hunden abstammten“. 44Die Redaktion von „Totalitarimus und Demokratie“ verschickte eine Stellungnahme, in der sie sich für die Veröffentlichung entschuldigte. Der Redaktion habe „sich die Verfasserin u.a. mit einem ausführlichen Tagungsbericht der renommierten Internetplattform ‚H-Soz-Kult‘ empfohlen. […] [T]rotz eines intensiven Lektorats [sei] die Täuschungsabsicht nicht erkannt und die nötige wissenschaftliche Sorgfaltspflicht vernachlässigt“ worden. Das „liberale Grundverständnis der Zeitschrift [sei] missbraucht und für eine angebliche Wissenschaftskritik instrumentalisiert“ worden. 45Allerdings gingen der Verlag und das Institut ansonsten weniger souverän mit dem Hoax um. Der Beitrag wurde kommentarlos aus der eLibrary des Vandenhoeck & Ruprecht-Verlages gelöscht, das im Internet verfügbare Inhaltsverzeichnis sowohl auf der Seite des Verlages als auch auf der des HAIT stillschweigend um den Schäferhund-Text bereinigt. Im Jahresbericht des Instituts wird die Angelegenheit ebenfalls nicht benannt 46, geschweige denn, dass eine erkennbare Auseinandersetzung mit dem Hoax stattfindet.
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