Er ging um den Laster herum und sah, dass die Kabine leer war. Kein Mensch war in der Nähe. Sein Herz begann zu hämmern. Er müsste nur zugreifen. Sicher kam der Fahrer gleich zurück, und dann wäre es zu spät. Vorsichtig schaute er sich um und ging wieder nach hinten zur Ladefläche, wartete ab, bis ein paar Autos vorbeigefahren waren, und spähte hinüber zu den Laderampen der Fabrik. Niemand zu sehen.
Plötzlich war das einzige Geräusch, das er noch hören konnte, sein klopfendes Herz. Er griff nach einer Kiste, um sie herunterzuziehen, aber sie war schwerer als erwartet. Der ganze Stapel geriet ins Schwanken, und er hatte Angst, auf die Heckklappe zu steigen, um besser zupacken zu können. Wenn man ihn im Laster erwischte, wäre es für jeden klar, was er vorhatte. Aber er musste diesen Wein haben. Er hatte noch nie im Leben Wein probiert, doch er wollte ihn, weil er wusste, dass er etwas wert war.
Der Schweiß brach ihm aus, als er zögernd einen Fuß auf die Heckklappe stellte. So rasch wie möglich zerrte er die Kiste herunter, ehe der ganze Stapel umkippen konnte, und sprang wieder auf den Bürgersteig. Die Kiste war schwer, sehr schwer, und er fühlte sich schuldig wie ein Judas. Rasch stemmte er sie auf die Schulter und lief los. Sein Rücken schmerzte, und sein Herz raste. Er dachte an das Paramount Kino in der Stadt und die Cowboyfilme, die er dort am Samstagnachmittag gesehen hatte, in denen die Helden immer mit schäbigen Ganoven kämpften. Und so einer war er jetzt auch. Zum Verbrecher geworden durch roten Wein.
Er rannte den ganzen Weg zurück zur Siedlung, lief direkt zu den Verbrennungsöfen und knallte die schwere Metalltür hinter sich zu. Ein Fenster im Ofen von der Größe eines Briefumschlags tauchte den dunklen Raum in einen rötlich-glühenden Schimmer. Richie stellte die Kiste ab, starrte auf das Feuer und erinnerte sich an den Schwachsinn, den die Nonnen in der Schule dauernd über die Hölle verzapften. Er glaubte kein Wort davon. Mit diesem Gewäsch versuchten sie bloß, einem Angst zu machen und unter ihrer Fuchtel zu halten. Er zog eine Flasche aus der Kiste und betrachtete sie aufmerksam. Der Wein war so dunkel, dass sogar der Feuerschein ihn nicht durchdringen konnte. Mit seinem Taschenmesser probierte er, den Korken zu lockern. Sein Herz hämmerte immer noch wie verrückt, und der Ofen verbreitete eine Hitze, dass sein Gesicht glühte. Verbissen stocherte er an dem Korken herum, um ihn irgendwie rauszudrücken, aber das funktionierte nicht, deshalb zerschnitt er ihn im Flaschenhals, kratzte die losen Stücke heraus und presste dann den Rest in die Flasche. Langsam hob er sie an die Lippen. Seine Hand zitterte. Der Geschmack war ganz anders, als er gedacht hatte, kräftig und süß und eigentlich gar nicht angenehm. Vielleicht war das so etwas, woran man erst ›Geschmack‹ finden musste. Sein wohlhabender Onkel Mickey gebrauchte oft diesen Ausdruck: Es bedeutete, dass etwas auf Anhieb möglicherweise nicht so gut schien und doch etwas Besonderes war. Richie spuckte einige Korkkrümel aus und nahm vorsichtig einen weiteren Schluck. Es dauert wohl, bis man sich an so was Gutes gewöhnt, dachte er. Er trank, so viel er nur konnte, und versteckte dann die Kiste unter einigen alten Zeitungen in einer Ecke.
In dieser Nacht ging es ihm erbärmlich. Dauernd musste er sich erbrechen, lauter purpurne Flüssigkeit, aber nicht, weil er betrunken gewesen wäre. Er war vielmehr einfach krank vor Angst, dass die Polizei kommen und ihn mitnehmen würde, weil man ihn als Dieb entlarvt hatte.
Sein Magen machte ihm tagelang zu schaffen, doch er sagte kein Wort zu seiner Mutter. Er konnte nicht essen und fürchtete sich, nach draußen zu gehen, wo ihm die Polizei womöglich auflauerte. Aber nichts geschah. Zwei Wochen dauerte es, bis er schließlich überzeugt war, dass er Glück gehabt hatte und der Wein tatsächlich ihm gehörte.
Als er jedoch wieder nach seinem geheimen Lager sehen wollte, war die Kiste verschwunden. Irgendjemand hatte sie gefunden und seinen Wein mitgenommen. Garantiert steckte Johnny dahinter.
In einiger Entfernung überquerte ratternd ein Zug die Bertonbrücke an der Newark Avenue, der entweder in Richtung des Rangierbahnhofs fuhr oder von dort kam. Richies Vater arbeitete bei der Eisenbahn als Bremser. Jedenfalls glaubte er das, aber er war nicht sicher. Das letzte Mal hatte er ihn vor zwei Jahren bei der Geburt seiner kleinen Schwester gesehen. Er war abgehauen, als Richie noch ein kleines Kind gewesen war, doch ab und zu stand er urplötzlich vor der Tür wie ein Seemann, der auf Landgang nach Hause kam. Sein Erscheinen bedeutete allerdings kein besonderes Vergnügen. Er war hitzköpfig, und offenbar machte es ihm Spaß, seinen ältesten Sohn völlig grundlos zu verprügeln. Stinkbesoffen kam er brüllend ins Kinderzimmer gestürmt, tobte wegen irgendeiner Nichtigkeit und zog dann den Gürtel aus seiner Hose. Es war nicht so schlimm, wenn die Mutter zu Hause war; dann dauerte die Dresche gewöhnlich nicht lange, weil sie versuchte, ihn zurückzuhalten und ebenso lautstark brüllte und kreischte. Richie war zu dem Schluss gekommen, dass sein Alter genau wie alle anderen war. Das Einzige, was er im Grunde wollte, war ein wenig Beachtung, und deshalb würde er wieder seinen Gürtel nehmen und loslegen, wenn die Mutter bei der Arbeit war; es gab nichts, was ihn davon abhalten konnte. Richie konnte nur versuchen, es zu ertragen und währenddessen an etwas anderes zu denken.
Natürlich wurde er auch von seiner Mutter geschlagen, aber sie hatte nicht so viel Kraft und Ausdauer, wenn sie zum Besenstiel griff, und es tat nicht mal halb so weh. Sie schuftete dermaßen in der Armour-Fleischfabrik, dass sie kaum Zeit fand, ihre Kinder zu verdreschen. Allerdings hatte sie andere Methoden, mit denen sie es schaffte, dass man sich klein und mies fühlte. Bessere Methoden. Sie machte es mit Worten, boshaften, hämischen, verletzenden Worten, nach denen Richie sich wie der letzte Dreck vorkam und überzeugt war, dass ihre Verbitterung und Enttäuschung über das Leben allein seine Schuld waren und dass er etwas tun sollte, um es wieder gutzumachen. Dabei wusste er gleichzeitig, dass alles zwecklos war. Wenn er es sich recht überlegte, war sie eigentlich noch schlimmer als der Alte.
Aber bei den Eltern blieb einem nichts weiter übrig, als sich damit abzufinden; von einem anderen Kind dagegen durfte man sich nichts gefallen lassen. Es gehörte sich, dass man sich wehrte, so wie es die Cowboys in den Filmen machten. Genau deshalb stand er jetzt hier in der Dunkelheit gegen die warme Ziegelwand gedrückt und hielt die Kleiderstange bereit, um sich endlich zur Wehr zu setzen und zurückzuschlagen.
Johnny verhöhnte ihn nicht nur, er schlug ihn auch gern zusammen. Er wohnte im Erdgeschoss desselben Hauses und hatte seine eigene Bande. Ständig triezte er ihn, wenn seine Truppe dabei war, um sich wichtig zu machen und um zu zeigen, wer hier der Anführer war. Am Anfang hatte Richie versucht, sich zu verteidigen, aber wenn er bloß eine Hand gegen Johnny erhob, fielen die anderen sechs Kinder, die ebenfalls in dieser Siedlung an der 16. Straße lebten, mit Boxhieben und Tritten über ihn her. Nach einer Abreibung, bei der er eine geplatzte Lippe kassierte und sich einen Monat lang mit dumpfen Schmerzen in der Seite quälte, hatte er gelernt, dass es besser war, es einfach hinzunehmen, genau wie die Dresche seines Vaters. Das ging schneller. Aber es war schwer. Johnnys zur Schau getragene Überheblichkeit machte ihn rasend, und die Demütigung, von der ganzen Bande ausgelacht zu werden, zerfraß ihn innerlich.
Richie zitterte vor aufgestautem Hass, wenn er nur an Johnny und seine blöde Meute dachte. Er klopfte mit der Stange auf den asphaltierten Boden. Nein. Es reichte jetzt wirklich. Er würde sich nichts mehr gefallen lassen.
Schritte erklangen im Hof, und ihm blieb fast das Herz stehen. Jemand kam in:seine Richtung. Langsam hob er die Stange. Seine Arme waren bleischwer, und er fühlte sich wie gelähmt.
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