In der weltweiten Krise, die 2020 von der SARS-CoV-2-Pandemie ausgelöst wurde, diskutierte man in Deutschland heftig über ethische Grundlagen politischer Maßnahmen zur Einschränkung des öffentlichen Lebens. Zur Debatte stand die Legitimität repressiver Zwangsmittel im Rahmen eines demokratischen Rechtsstaats. Dabei ist es nicht zu Unrecht als »moralische[r] Zwiespalt« (Kornelius 2020) bezeichnet worden, dass sich die Ordnungsmacht über das individuelle Recht auf Bewegungs- und Versammlungsfreiheit hinwegsetzt, um das Leben von Menschen zu schützen, das unter bestimmten Umständen durch eine Infektionsgefahr bedroht ist. Versammlungsverbote, Ausgangsbeschränkungen und Ausgangssperren sind klassische ordnungspolitische Instrumente zur Kontrolle einer potentiell sich widersetzenden Öffentlichkeit. Sie dürfen nicht nur mit Hinweis auf einen politischen ›Ausnahmezustand‹ (Bedrohung von außen, von innen oder durch eine Naturkatastrophe) gerechtfertigt werden, sondern müssen sich gemäß moralischen Kriterien als angemessen zum Schutz bedrohter Minderheiten ausweisen lassen. Die [35]entsprechende Argumentation hatte in diesem Falle eine medizinische Seite, denn die Maßnahmen wurden ergriffen, um festzustellen, ob sie sich überhaupt als kurz- und mittelfristig effektiv erweisen würden. Und es hatte eine ethische Seite: Politik ist auf moralische Rechtfertigung angewiesen.
Was sind ethische Werte? Welcher Einsatz für sie darf als angemessen gelten? Wie gesagt: Gegenwärtig dominieren nicht mehr ontologische, sondern handlungstheoretische Bestimmungen. Vieles spricht dafür, Werte als relativ auf Bedürfnisse bezogen zu verstehen. Der Philosoph Wolfgang Schlüter hat das mit den Begriffen einer materialistischen Anthropologie erklärt. Werte resultieren demzufolge aus psychischen Reaktionen auf Triebbefriedigungsaufschub:
Körperliche, seelische und geistige Bedürfnisse verlangen nach unmittelbarer Befriedigung; ist diese versagt, so wird aus dem Bedürfnis ein Wert: Ich begreife die Versagung, die Befriedigung des Bedürfnisses wird mir wertvoll, und ich denke über Wege nach, diesen Wert zu realisieren, da sich seine Realisierung offensichtlich nicht einfach aus den naheliegenden Möglichkeiten ergibt. Der dafür notwendige Vernunftgebrauch muß erheblich gesteigert werden, wenn verschiedene Bedürfnisse miteinander konkurrieren, die nicht unmittelbar befriedigt werden können: Es muß eine Wertehierarchie aufgebaut werden. (Schlüter 1995, 177.)
Diese Erklärung der hierarchischen Anordnung unserer Bewertungen ist plausibler als Schelers Vorstellung von einem an sich seienden, hierarchischen Wertekosmos.
[36]Von diesem bedürfnis- und handlungstheoretischen Begriff des Wertes her kann nun auch der Begriff der Norm näher erläutert werden. In der Alltagssprache ist die Rede von Normen mehrdeutig. Damit können empirische, d. h. aus dem Erfahrungswissen abgeleitete Durchschnittsqualitäten gemeint sein, die unter Umständen willkürlich per Dekret gesetzt worden sind (beispielsweise die Normen des Deutschen Instituts für Normung DIN oder der Rahmen, der für die Abmessungen eines Fußballfeldes vorgegeben ist). Es können aber auch kontrafaktische Regeln und Maßstäbe gemeint sein (also solche, die dem tatsächlich Gegebenen entgegenstehen). Nur auf Letztere bezieht sich der philosophische Begriff der Norm oder des Normativen. Philosophisch gesprochen, sind Normen verbindliche Sollensforderungen. Ihre Gültigkeit kann sowohl als relativ auf bestimmte Handlungsziele ausgerichtet als auch im Sinne einer absoluten Gültigkeit aufgefasst werden, d. h. einer Gültigkeit, die in sich selbst legitim ist und nicht der Ableitung aus je bestimmten Zwecken des Handelns bedarf. Letzteres kennzeichnet idealistisch begründete Ethiken, während materialistische Theorien die Geltung von Normen relativ zu den Zielen des Handelns verstehen.
In diesem Zusammenhang sei noch einmal die bedürfnistheoretische Moralanthropologie von Schlüter angeführt, der seinen Ansatz mit der, auf Arnold Gehlens zurückgehenden, sozialanthropologischen Entlastungstheorie kombiniert:
Habe ich […] hinreichend Erfahrung mit der Realisierungsmöglichkeit eines Wertes und mit der erprobten Abstufung der konkurrierenden Werte, so entlaste ich [37]mich unter dem stetigen Ansturm neuer Bedürfnisse und neuer Situationen, indem ich die gefundenen und erprobten Wege der Wertrealisierung und -abstufung normiere. Die Norm ist eine festgelegte Form der Wertrealisierung, die den Vernunftgebrauch entlastet. Eine so zustandegekommene Norm kann dann ihrerseits die Entstehung neuer Bedürfnisse verursachen, aber auch in ein Spannungsverhältnis treten zu einer inzwischen veränderten Bedürfnislage, weil diese naturgemäß zu einer neuen Wertehierarchisierung drängt, der Zweck der Norm aber darin besteht, gleichsam endlich mal Ruhe und Klarheit an der Bedürfnisfront zu schaffen. (Schlüter 1995, 177 f.)
Normen können demnach als sozial kodierte und sanktionierte Methoden definiert werden, mit denen man versucht, Werte zu verwirklichen.
Das Spezifische des philosophischen Nachdenkens über Normen und Werte besteht darin, dass diese auf Prinzipien zurückgeführt werden und ihr universaler Charakter begründet oder problematisiert werden soll. Es wird also der Frage nachgegangen, was es mit dem schlechthin allgemein verbindlichen Geltungsanspruch auf sich hat, den Moralprinzipien, anscheinend naturgemäß, mit sich führen. Moralprinzipien, Werte und Normen beziehen sich stets auf Angelegenheiten, die tendenziell alle Menschen in vitaler Weise betreffen. Es geht, vereinfacht gesagt, um die Frage, wie wir leben sollen.
[38]In antiken Ethiken steht das Motiv des guten Lebens, also des Glücks, im Zentrum, in neuzeitlichen Ethiken das Motiv der Pflicht. Im vorigen Abschnitt wurde gezeigt, dass die Fundierung der Moral auf dem Prinzip der Selbsterhaltung einen wichtigen Zwischenschritt darstellt, den man als Indikator für die Individualisierungstendenz der europäischen Neuzeit bezeichnen kann.
Wird menschliche Glückseligkeit als die letzte Begründungsinstanz für moralische Ge- und Verbote verstanden, spricht man in philosophischer Terminologie von einer materialen Ethik. Ethiken, für die die letzte Begründungsinstanz ein Konzept unbedingt geltender Verpflichtungen anderen Menschen gegenüber ist, werden dagegen als formale Ethiken bezeichnet. Denn, wie Kant ausgeführt hat (siehe Kap. 10): Was Menschen als Glück bzw. als glückliches Leben empfinden, ist individuell sehr verschieden und jeweils an Inhalte gebunden, die nicht miteinander kompatibel sind. Demgegenüber ist das Konzept ethischer Verpflichtung als formales Konzept stringent verallgemeinerbar, denn es beruht nicht darauf, wozu wir im konkreten Einzelfall verpflichtet sind, sondern es hat den Charakter einer strikten Regel, die immer gilt. Kants prominentestes Beispiel dafür ist das Gebot, jederzeit die Wahrheit zu sagen.
Dazu später mehr; zunächst aber noch einige Bemerkungen über die Begriffe ›Ethik‹, ›Moral‹ und ›Moralphilosophie‹. Jeweils immer dann, wenn in der Ethik über Prinzipien, Begründungen und Anwendungen der Moral nachgedacht wird, kann man auch sagen, dass Ethik die Philosophie der Moral ist. Ethik bedeutet also etwa das Gleiche wie Moralphilosophie. Daher werden die beiden Ausdrücke in der Philosophie meist synonym verwendet.
[39]Das war aber in der Geschichte der Philosophie lange Zeit nicht der Fall. Denn zumeist verstand man unter ›Ethik‹ Tugendlehren oder die Lehre von den Gütern, die zu einem gelingenden Leben erforderlich sind. In älteren philosophischen Texten wird unter Ethik ›Sittenlehre‹ oder ›Tugendlehre‹ verstanden. Deren Gegenstand, die Moral, ist dann die Gesamtheit der bestehenden Sitten und der anerkannten Tugenden. Sitten und Tugenden sind indessen nicht das Gleiche. Die Sitten eines Gemeinwesens umfassen dessen kollektive Praxis (Hegel bezeichnete sie als daseiende »Sittlichkeit«), also alles, was in intersubjektiver Praxis üblich ist und als gerechtfertigt gilt. Heute würde man eher von der ›Kultur‹ als von der ›Sittlichkeit‹ eines Gemeinwesens sprechen. Tugenden hingegen sind Veranlagungen bzw. Dispositionen des Individuums. Die Antike verstand unter einer Tugend (griech. arete ) eine Charaktereigenschaft, die positiv bewertet wird, wie z. B. Tapferkeit, Weisheit oder Gerechtigkeit. Ein tugendhafter Mensch war einer, dessen charakterliche Disposition insgesamt zum ›Guten‹ tendiert, worunter durchaus Verschiedenes verstanden wurde.
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