Bis heute liegt kein stichhaltiger Nachweis über Claudia Pechsteins durch ständig neue und überarbeitete Gutachten angeblich belegte Kugelzellanomalie vor. Vielmehr soll sie mittlerweile an der noch selteneren Xerozytose leiden, was, milde ausgedrückt, schwer nachweisbar wäre. Dessenungeachtet marschieren durch diesen schon sagenhaft redundant-geifernden Buchstiefel unverdrossen mantraartig die Begriffe »Hexenjagd«, »öffentliche Stimmungsmache«, »öffentliche Hinrichtung«, »Bannstrahl«, »Jagdfieber«, »Vorverurteilung«, »Riesensauerei«, »Glaubenskrieg«, »Feldzug«, »Berufsverbot«, »Scheiterhaufen« und »faule Tricks«, um das Lager derjenigen Richter, Funktionäre und Journalisten zu kennzeichnen, die Pechstein »abschlachten« wollten und wollen. Nur gut, daß Claudia Pechstein Bild und Bild am Sonntag , die ehernen Garanten von Moral und Integrität, auf ihrer Seite weiß. Und nur gut, daß sie ihr blitzsauberes dualistisches Weltbild mit putzigen Medaillenposerphotos garniert, auf die wir uns hier keinen zweiten Reim machen wollen.
»Was für ein linkes Ding. Ich kann gar nicht so viel essen, wie ich kotzen könnte«, diktierte Claudia Pechstein Ralf Grengel aufs unschuldige Tonband. Als »echtes Kampfschwein« tituliert sich die, scheint’s, lauterste und fairste Sportlerin der jüngeren Menschheitsgeschichte, und bevor wir die von der unheiligen Inquisition verfolgte Wintersportgranate heiligsprechen und ihr obendrein für die Zweitauflage den Titel Ich, Claudi – Die ehrliche Lycrahaut spendieren, bleibe abschließend nicht unerwähnt, daß die von der ISU »mit Schimpf und Schande« Überhäufte daran dachte, sich »dem Absturz, der ganzen Ausweglosigkeit« durch Selbstmord zu entziehen – und das auf eine derart patzig-schmierige Manier schildert, daß wir zu fragen wagen: Obszöne Koketterie? PR-Frechheit? Und mit Bertolt Brecht hinterherschicken: »nachbar, euren speikübel!«
Es gibt Bücher, die man mit der Kneifzange anfassen muß. Und es gibt Bücher, mit denen man nicht mal mittelbar in Berührung kommen sollte. »Ich wünsche mir, daß das Buch zur Pflichtlektüre für Journalisten wird«, sagte Claudia Pechstein bei der Vorstellung. In den Redaktionen der Springer-Presse dürfte ihr Wunsch erhört werden.
Am Freitagabend sagte Achim Greser auf der Titanic -Weihnachtsfeier zu mir, beim Fußballgucken bereite ihm Matthias Sammer am meisten Freude. Wenn Sammer als Sky-Experte im Einsatz sei, zähle er, Achim, immer mit, wie oft der DFB-Sportdirektor die Phrase »ein Stück weit« verwende. Sammer rage aus dem Heer der »Ein Stück weit«-Automaten mindestens »ein Stück weit« heraus, meinte Achim, der darüber hinaus betonte, daß in der laufenden Saison so viele Tore wie seit langem nicht mehr fielen und so viele Auswärtssiege wie seit Jahren nicht mehr zu verzeichnen seien.
Ich schaue mir Frankfurt gegen Mainz im Kyklamino an. Die Eintracht hat eine exzellente Auswärts- und eine miserable Heimbilanz. Das verspricht einen vergnüglichen Nachmittag, zumal da Tuchels Team mit einer »flachen Vier« spielt und die »gefühlte Ballbesitzzeit«, wie der Reporter mitteilt, erstaunlich, ja: intensiv sei? Hoch sei? Eine hohe Zeit?
Noch besser würde ich mich fühlen, stünde ich jetzt auf der Hohen Acht und blickte über die wunderbare, verschneite Eifel. In der 35. Minute erzielt allerdings Russ das 1:0. Wenn der Russ’ mal kommt, ist alles zu spät, das weiß man, und deshalb sagt mein Kumpel Berry: »Dann gibt’s heute ein Fünfnull.«
Ein paar Minuten später tritt Risse auf und schlägt den Russ’ zurück. So. Berry: »Jetzt verlier’n sie.«
Ich überlege, ob ich eine hochnotwendige Kritik der Werbebande zusammenschmieren sollte, verwerfe den Gedanken aber nach dem nächsten Schluck Bier. Nach dem »Pausentee« (Reporter) ist die »gestiegene Erwartungshaltung« (laut Postkarte von Eckhard Henscheid tauchte die kürzlich in einem Sportbericht gleich viermal auf) förmlich mit den Ohren zu sehen. Berry: »Der Meier ist für den Grabowski gekommen.« Mir geht das ständige Reklamieren auf den Geist, dieses Träntütentheater. Fußball, schreibt Pit Chotjewitz, ist »eine Geschlechtskrankheit«.
Mainz sei nun »gut im Schuh«, klärt uns der Reporter auf. Sia sieht heute klasse aus. Berry erzählt: »Ich hab’ noch nie so viele Besoffene vor dem Stadion rumliegen sehen wie in Dortmund.« Wirt Apollo kommentiert die Vorstellung der Eintracht: »Dieses Stehen ist am Arsch!«
In der 75. Minute erhält Frankfurt einen Freistoß. Einer brüllt: »Wir brauchen jetzt Dr. Hammer!« Der Reporter: »Man müßte jetzt aus solchen Situationen mal Nektar saugen.« Berry: »Das ist wie im Pornofilm.« Hm. Ein anderer: »Der eine ist zu kurz, der eine ist zu langsam, der andere fällt um.«
Apollo erläutert, daß »Gekas« wörtlich »Jagdhund« oder »Jäger« bedeute. »Oder Hundesohn«, wirft jemand ein und ergänzt: »In Zukunft bestelle ich Gekasschnitzel.«
Der Mainzer Holtby habe in den vergangenen Wochen »Kreativität tanken können«, schnabelt der Reporter vor sich hin. Apollo und Berry stoßen mit Wodkanektar »auf den an, wo dem Tor schießt«. Erledigt wird das von Gekas.
Das war es dann für vorgestern.
Mag sein, daß in der aktuellen Bundesligahinrunde neuerlich allerlei First-class-Dummheiten und spielerische Toppleiten das kulturelle Leben in dieser Glanzrepublik bereichert haben, doch der unanfechtbare Höhepunkt fußballerischer Kunstausübung und -darbietung war am 2. Oktober 2010 im Frankfurter Gallusviertel zu gewahren, als zum drittenmal nach 2007 und 2008 das »Große Turnier um den leeren Gallus-Pokal« ausgetragen wurde.
Ich hatte eiskalt beschlossen, nicht zu spielen – den dreckigen Job der Titelverteidigung sollten andere erledigen –, mich zum Teammanager von »Hermann United« ernannt und Katja zur Technischen Direktorin degradiert, die nun für die Spielerbeschaffung und surrealistische Taktikskizzen zuständig war, die unseren Hauptfeind, meinen Stammwirt Apollo und dessen Ramschtruppe »Apollo 11«, irritieren und demotivieren sollten.
Am Vorabend des 2. Oktober standen exakt zwei Spieler auf meiner goldgefaßten Managerschiefertafel: der Trierer Dauerläufer und -esser Jöricke und unser in mancher Kesselabwehrschlacht gestählter Torwart, der Universalhandwerker und -politologe Martin S., der, um Gegentreffer zu verhindern, notfalls unser Tor auf dem abermals optimal überfluteten Kleinplatz gegenüber der Societäts-Druckerei geschwind abschrauben würde.
»Katja, du hast versagt, ich muß dich entlassen«, brummte ich am Tresen des Kyklamino . »Was soll ich denn machen? Einer hat Knie, einer hat zwei Knie, einer hat gar kein Knie mehr, und einer hat keine Schuhe. Was ist überhaupt mit deiner Nia Künzer?« – »Hab’ mein Handy ins Bierglas geschmissen und deshalb ihre Nummer nicht mehr.« – »Und du willst Manager sein? Sogar Elena, die von dir erkieste Pressesprecherin, ist spurlos verschwunden!«
Bevor die Situation eskalierte, schritt Martin S. ein: »Ruhig, Leute! Wir organisieren einfach schnell ein paar kaputte Typen mit Killerinstinkt. Ich kenn’ zwei Zigarrenraucher, die haben gut Luft, die ruf’ ich an.«
Nach zwei Telephonaten war klar, daß die Zigarrenraucher zwar gut Luft zum Saufen, aber keine Lust zu laufen hatten. Ich erreichte wenigstens den Gießener Kollegen Jörg S., der mir steckte, irgendwas »mit den Knien« zu haben. Ich kündigte ihm die Freundschaft, da sagte er zu, und auch Katja hatte plötzlich die zwei Brecher Mirko und Christoph engagiert.
Apollo, der Berlusconi des Gallus, verfügte laut Spielerplan über zwanzig Luschen, lauter korrupte Einkäufe. »Es geht morgen um brutalstmögliche Härte«, schwor ich uns drei lautstark ein, »der Trojanische Krieg wird nichts dagegen gewesen sein.« Apollo winkte ab und griente sardonisch, und ich erteilte unserem Torwart Vögelverbot. »Logisch, dumm kickt gut«, sagte er, und Katja meinte: »Zur Not renn’ ich mit der Uzi auf den Platz.«
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