Und ob er es hätte verhindern können – was immer „es“ war.
Nick spürte ein Ziehen in sich. An der Stelle im Bauch, die direkt zwischen Herz und Magen lag. Flau. Mulmig. Ein wenig schmerzhaft. Es trieb ihm Feuchtigkeit in die Augen, was ihn überrumpelte. Er drängte sie zurück.
Nick wandte sich vom Fenster ab und stöpselte seine E-Gitarre ein. Musik zu machen war für ihn eine der wenigen Möglichkeiten, den Kopf freizukriegen. Und die Stelle zwischen Herz und Magen. Er hatte zweifellos Talent, das bestätigte man ihm dauernd, und das zeichnete sich bereits im Kindergarten ab.
Er besaß das richtige Gehör und ein angeborenes Gefühl für Rhythmen. Blockflöte spielen hatte er sich ebenso selbst beigebracht wie Noten lesen. Nicht lange darauf kreierte er eigene, kleine Melodien, ohne darüber nachzudenken. Es lag ihm einfach im Blut.
Im Grundschulalter besuchte er eine Musikschule. Er blieb zunächst bei den Holzbläsern und lernte Saxofon zu spielen – bis er das für ihn bestimmte Instrument in Händen hielt: die Gitarre.
Er spielte sowohl die akustische als auch elektrische Variante und benutzte sie, als wären sie natürliche Teile seines Körpers, zusätzliche Arme vielleicht, wie bei einer indischen Gottheit.
Mittlerweile war er Mitglied einer Band namens „The Outbreakers“. Das waren Tim, die Bassgitarre, der Drummer Sascha, Keyboarder Orlando und der Gitarrist und Sänger Alex, alles Jungen in seinem Alter, mit dem großen Traum vom Weltruhm – den Nick teilte.
Niemand hatte eine Ahnung, woher Nicks Talent stammte. Es gab keine Musiker in der Familie. Nur den Großvater seines Vaters, der Zither spielen konnte. Volksmusik. Aus dem Sudetenland, hieß es. Ganz gut zwar, aber bestimmt nicht herausragend, wie Nicks Vater sich erinnerte. Und er, Nick, hatte seine Urgroßeltern nicht mehr kennengelernt.
Nick stand auf Rockmusik. Und das war etwas, was er von seinen Eltern hatte. Er spielte gerade Alice Cooper, da öffnete sich die Tür zu seinem Zimmer und sein Vater sang mit dröhnender Stimme: „School’s out for summer!“
Nicks Mutter erschien neben ihm. Sie spielte Luftgitarre und legte ebenfalls los: „School’s out forever!“
Nick fiel ein. Zu dritt zu singen, fand er einfach nur herbe geil!
Alles war gut im Hause Ritter. Das eigenartige Gefühl an dem Fleck zwischen Herz und Magen war vollkommen verschwunden.
Am Abend brachten sie in den Nachrichten die neuesten Meldungen über den „Fall Jan“. Nick fragte sich, wie lange es wohl dauern würde, bis die Wahrheit über das Verschwinden des Jungen ans Licht kam. Und ob sie überhaupt je ans Licht kommen würde.
In der Nacht träumte er, dass alle Menschen auf der Welt sich zu verändern begannen. Ihre Köpfe wurden durchsichtig wie Glas, sodass man bis tief in ihr Innerstes schauen konnte, wo ihre Gedanken wie Kurzfilme offen für jedermann zu sehen waren. Nicht wenige waren Videoclips des Grauens.
Es dauerte nicht lange, und einige Menschen begannen große, schwarze Hüte zu tragen. Nach und nach wurden sie immer mehr.
In Schweiß gebadet erwachte Nick. Im Dunkeln tappte er barfuß die Treppe nach unten, um sich was zu trinken zu holen.
Licht brannte in der Küche. Seine Mutter saß am Tisch in der Essecke. Sie löste Sudoku und aß Kinderschokolade. Das tat sie häufig, wenn sie unruhig war.
„Alles in Ordnung, Mama?“
„Ich kann nicht schlafen.“
Nick goss sich ein Glas Wasser ein und setzte sich zu ihr.
„Du weißt ja, das kann ich nie vor einer längeren Fahrt. Der Verkehr, die Staus, die vielen unvorsichtigen Autofahrer. Außerdem“, sie schnitt eine Grimasse, „schnarcht dein Vater.“
Nick hörte nicht richtig hin. Er war mit seinem Traum beschäftigt, mit den Menschen darin, die versuchten, ihre Gedanken vor anderen zu verstecken. Und plötzlich wusste er, was er tun wollte.
„Nick?“
Er fuhr zusammen. „Ja?“
„Worüber denkst du nach?“
„Über das Mädchen. Und ich will es machen. Ich meine, ich will versuchen, dieser Lina zu helfen.“
Sie sah ihn wortlos an. Allein ihre gerührte Miene sprach Bände.
Nur eines bereitete Nick noch Sorgen. Er könnte es versemmeln, etwas Falsches zu dem Mädchen sagen oder sie mal anschnauzen. Sie womöglich zu grob anfassen oder sonst eine Sache tun, die ihr schadete.
Auch bei Katharina musste er fraglos irgendwas nicht ganz richtig gemacht haben. Andernfalls wäre der Knutscherei auf der Fete doch unter Garantie eine zweite gefolgt.
Bei der Vorstellung bekam er Drachenohren!
Vielleicht machte er alles schlimmer, als es ohnehin schon war, und Lina Soundso wurde noch seltsamer. Was würden sie dann sagen? Seine Eltern. Marion. Thomas. Ihr Psychologe.
Die Erwachsenen.
Seine Mutter stand auf. Sie riss ein Stück Küchentuch ab, wischte sich damit erst über die Augen und putzte sich danach geräuschvoll die Nase. „Gute Nacht, Nicolas Ritter.“
„Nacht. Schlaf gut.“ Er aß ebenfalls einen Riegel Schokolade, bevor er in sein Zimmer ging. Als er in seinem Bett lag, glaubte er zuerst, er könnte nicht wieder einschlafen.
Er irrte sich.
Linas letzte Gedanken vor dem Einschlafen
In den Abendnachrichten haben sie wieder über Jan berichtet. Im Fernseher sah ich das ernsthafte Gesicht meines Bruders. Seine hellen Augen. Er lächelte nicht. Ich glaube, es gibt keine Fotos, auf denen er lächelt. Es war ein langer, ziemlich ausführlicher Bericht.
Ist es nicht eigenartig? Ich könnte darüber lachen, wenn es nur nicht so traurig wäre! Aber erst jetzt, wo er verschwunden ist, ist Jan für die Menschen wichtig und interessanter als jemals zuvor.
Bruder, ich denke an dich – Dirbra cho kidin ne ochd.
Mirom.
Nick schleppte nacheinander seinen Koffer, die Laptoptasche und zuletzt den E-Gitarrenkoffer zum Auto. Es war sieben Uhr am Morgen, und alles lief genau nach dem Reiseplan seines Vaters, der bester Laune den Wagen belud.
Nach dem Frühstück ging es los. Nick, die Stöpsel seines MP3-Players im Ohr, machte es sich auf dem Rücksitz bequem. Seine Mutter hatte das Schiebedach geöffnet. Es dauerte nicht lange, da träumte er zufrieden in der Sonne, während er im Geiste einige Gitarrenstücke mitspielte.
Gegen Mittag kamen sie an. Das Fachwerkhaus stand abseits und war nur über eine holprige Landstraße zu erreichen, die sich durch Weiden, Wiesen und Wäldchen schlängelte. Wenn es länger nicht geregnet hatte, so wie in den letzten zwei Wochen, wirbelten Autoreifen Wolken von hellem Staub auf, die minutenlang wie Schleier in der Luft hingen.
Früher einmal war das Haus eine Wassermühle gewesen, aber seit der Renovierung sah man davon nichts mehr. Lediglich der Bach und der Mühlenteich erinnerten noch an diese Vergangenheit.
Auf den ersten Blick konnte man meinen, man wäre im Nirgendwo. Aber das war nicht so! Ganz in der Nähe gab es einen See mit Campingplatz, einen Ponyhof und eine Ferienhaussiedlung – und die damit verbundenen Angebote.
Viele Familien verbrachten hier seit Jahren ihren Urlaub, und im Laufe der Zeit hatte Nick mit anderen Kindern feste Ferienfreundschaften geschlossen. Während der übrigen Monate ließ man zwar nichts von sich hören, doch die Ferientage verbrachten sie gemeinsam.
Als der Wagen vor dem Haus hielt, kamen Marion und Thomas heraus, um sie zu begrüßen. Wie immer freute sich Nick, seine Tante und seinen Onkel zu sehen. Er stieg aus und lief zu ihnen. Von dem Mädchen, Lina, war nicht einmal ein Schatten zu sehen.
„Ich habe einen Erdbeerboden gemacht.“ Marion lächelte einladend. „Ihr habt doch noch Zeit?“
„Aber klar“, antwortete Nicks Vater. Er fand, dass man sich nach der dreistündigen Fahrt eine Kaffeepause zur Stärkung gönnen sollte.
Auf der Gartenterrasse, unter einem immensen Sonnensegel, war der Tisch für sechs Personen gedeckt. Aber auch hier keine Spur von Lina Soundso. Obwohl Marion rief: „Lina, sie sind da! Komm doch bitte zu uns“, geschah nichts.
Читать дальше