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„Man muss nichts im Leben fürchten, sondern es nur verstehen.
Und nun ist die Zeit zu verstehen, damit wir uns weniger fürchten.“
Marie Curie (1867–1934)
Kurze Zeit nach Billys Tod schlugen meine Eltern vor, dass ich mit einigen Schulfreunden an einem Zeltlager für Jungs auf der Isle of Man teilnehmen sollte. Sie dachten wohl, es würde meine Stimmung aufhellen, da ich meinen Onkel schmerzlichst vermisste. Und schon ging es los. Ich packte den Koffer, nahm meine Kamera mit und verbrachte mit zwei anderen Jungs eine Woche in einer Holzhütte. Der eine war Stanley Shackleton, und den anderen kannte ich nur unter dem Namen Pickles.
Wir bereisten die ganze Insel, wo ich viele Fotos machte, die ich später mit Dad entwickelte. Auf eins bin ich immer noch ganz stolz. Es zeigt das berühmte Laxey Wheel, das größte funktionstüchtige Wasserrad der Welt. Es wurde ursprünglich 1854 entworfen, um Wasser aus einer Mine zu befördern, in der man Blei, Kupfer und Zink abbaute. Reisen ermöglichten mir eine Perspektive, die über meine eigene Welt hinausging, und in diesen Jahren wurde ich mir meiner glücklichen Situation bewusst. Ich war fit und gesund, hatte eine liebende Familie, ein Dach über dem Kopf und Essen auf dem Tisch. Man musste damals nicht weit schauen, um die Auswirkungen der Großen Depression zu sehen, der Weltwirtschaftskrise, die mit Massenarbeitslosigkeit einherging, in einer allgemeinen Nachkriegsrezession, die durch den Aktien-Crash 1929 noch verschlimmert wurde. In Keighley herrschte große Armut, und wenn die Fabriken betroffen waren, wirkte sich das blitzschnell bei den Arbeitern aus. Einige setzten sich nach Spanien ab, um sich den 4000 britischen Freiwilligen anzuschließen, die dort „das Virus des Faschismus“ in einem erbitterten dreijährigen Bürgerkrieg bekämpften, den sie möglicherweise kaum verstanden. Manche haben sich wahrscheinlich durch das Angebot eines kleinen Solds verführen lassen. In Großbritannien gab es einige Hungermärsche, bei denen Männer und Frauen – vielen von ihnen aus dem Norden und somit den Gegenden der hohen Arbeitslosigkeit kommend – bis vor das Parlament zogen, um zu protestieren. In London fanden zahlreiche tumultartige Auseinandersetzungen statt und große Demonstrationen, die sich oft in regelrechte Schlachten verwandelten, während Premierminister Ramsay MacDonald eine dringliche Überprüfung der Arbeitslosenpolitik der Regierung anordnete. In den USA erfreute sich Franklin D. Roosevelt eines erdrutschartigen Siegs über seinen Kontrahenten, den vorherigen Präsidenten Herbert Hoover. Er hatte einen „new deal“ in Aussicht gestellt, darunter eine Arbeitslosenversicherung für die Bevölkerungsschichten, die keine Lobby hatten. Und in Deutschland war Adolf Hitler von der NSDAP nun schon drei Jahre lang Reichskanzler und mit ähnlichen Versprechen an die Macht gekommen. Er wollte die eingeschränkten Möglichkeiten des Landes nach dem Großen Krieg wieder verbessern und ausweiten.
Ich wusste, dass sich die Leute Sorgen wegen Hitler machten und sich vor dem zunehmenden Nationalismus in Deutschland fürchteten, doch das schien alles so weit entfernt zu sein – bis ich die erste Begegnung mit den Deutschen hatte, und das in meiner unmittelbaren Nähe. Im Mai 1936 tauchte die berühmte „Hindenburg“ plötzlich am sonnigen Abendhimmel in Keighley auf und schwebte dort beinahe bewegungslos zwischen den Wolken. Wir rannten alle aus den Häusern, um uns das gigantische silberne Luftschiff anzusehen, während Vater von seinem Zimmer aus ein seltenes Foto schoss. Mit einer Länge von über 246 Metern war die LZ 129 Hindenburg, die im März des Jahres ihren Jungfernflug gemacht hatte, der größte kommerziell genutzte Zeppelin der Welt. Sie flog mit circa 100 Passagieren und einer Crew nach und von Amerika und Brasilien. Auf dem Weg von Deutschland in die USA – es war eine geradezu epische dreitägige Reise – machte das Luftschiff, auf dessen Endflügeln Hakenkreuze prangten, einen Abstecher nach Keighley, einzig und allein, damit ein an Bord befindlicher Bote ein kleines Päckchen und Blumen zu Ehren seines Bruders Franz abwerfen konnte, der an der Spanischen Grippe verstorben war, mit der er sich 17 Jahre zuvor im Kriegsgefangenenlager von Skipton angesteckt hatte.
Zwei Jungen aus dem Ort – völlig verblüfft von dem riesigen Zeppelin, der wie ein Raumschiff über ihnen schwebte – hoben das Päckchen nahe des Devonshire Arms Inn auf und rannten nach Hause, um ihren Eltern davon zu berichten. Abgesehen von den Nelken hatten sie ein kleines Kreuz aus Jet gefunden und einen Brief mit dem folgenden Inhalt.
An den Finder dieses Briefes: Bitte legen Sie die Blumen und die Karten auf das Grab meines geliebten Bruders Leutnant Franz Schulte, 1. Garderegiment zu Fuß, Kriegsgefangener und bestattet auf dem Friedhof in Keighley, nahe Leeds. John P. Schulte, der erste fliegende Priester, Aachen, Deutschland. P.S. Bitte behalten Sie die Briefmarken und die Bilder als kleines Souvenir von mir. Gott schütze Sie! Ich hielt die erste Heilige Messe auf der Hindenburg am 9. Mai 1936.
Die Jungen befolgten die Bitte, und das Gedenkschreiben vom Himmel erregte landesweites Aufsehen. Die beiden schafften es sogar in die British Movietone News, woraufhin die Leute das Grab in Scharen aufsuchten. Es stellte sich heraus, dass Leutnant Schulte, 26, zur deutschen Luftwaffe gehörte und Bomben über London abgeworfen hatte, bevor man ihn in Kent abschoss. In den Houses of Parliament wurden plötzlich Fragen über die tatsächlichen Beweggründe der Stippvisite gestellt. Da die politische Lage in Europa Anlass zur Sorge gab, regten sich Befürchtungen, dass der Abwurf des Päckchens eine Finte gewesen sein konnten, um strategisch relevante Fotos der Gegend zur Vorbereitung möglicher Bombardierungen zu machen. Niemand hätte zu der Zeit ahnen können, dass die mit Wasserstoff befüllte Hindenburg ein Jahr später bei der Landung auf dem Flughafen des Stützpunkts der US-Marine in New Jersey, USA, lichterloh in Flammen aufgehen würde. 36 Menschen kamen ums Leben, doch der „fliegende Priester“ gehörte nicht zu den Opfern der Tragödie.
Ein anderes Ereignis lenkte in dem Sommer unsere Aufmerksamkeit auf Deutschland, denn man richtete die Olympischen Spiele in Berlin aus. Es waren die ersten, die übertragen wurden. Ich kann mich noch daran erinnern, wie ich mir einige der Wochenschauen im Lichtspielhaus ansah und dem amerikanischen Leichtathleten Jesse Owens applaudierte. Er gewann nicht weniger als vier Goldmedaillen, was den rassistischen Hitler zur Weißglut brachte, der seine besten Athleten aufgestellt hatte. Er weigerte sich, Owens die Hand zu geben.
Wie die meisten Teenager – und obwohl sich meine Eltern beide in der Conservative Association engagierten – hatte ich keine Ahnung, was Hitlers Politik für die Welt bedeutete. Ich konnte auch nicht einschätzen, welche umfangreichen sozialen Umbrüche die Weltwirtschaftskrise, die seinen Aufstieg erleichterte, nach sich ziehen würde. Ich erinnere mich hingegen noch an den sogenannten Jarrow Crusade, bei dem 200 Männer von Tyneside nach London marschierten, nachdem man ihre Werft geschlossen hatte, eine bis dahin florierende Industrieanlage, in der über 1000 Schiffe gebaut worden waren. Die Männer in dunklen Anzügen mit mürrischen Gesichtern und flachen Mützen kamen nicht durch Keighley, sondern zogen von Jarrow nach Ripon, von dort über Harrogate nach Leeds und weiter über Wakefield, Barnsley und Sheffield in den Süden, wofür sie bis London einen Monat brauchten. Im Kino wurde berichtet, dass man die Marschierenden großzügig mit Essen und Unterkünften auf ihrer Route unterstützte. Auch auf lokaler Ebene war das Mitgefühl zu spüren, das man den Arbeitslosen entgegenbrachte, doch es gab ebenso viel Unverständnis. Ironischerweise und trotz großer Bemühungen war es letztendlich nicht das Handeln der Regierung, das den Männern aus Jarrow zu Hilfe kam, sondern der nächste Krieg.
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