Zeitlicher Rahmen des SSNIP-Tests.Gemäß der Bekanntmachung der Kommission über die Definition des relevanten Marktes sind bei der Anwendung des SSNIP-Tests im Rahmen der Nachfragesubstituierbarkeit die Produkte oder Gebiete in die Prüfung einzubeziehen, deren Wettbewerbsdruck „das Preisgebaren der Parteien kurzfristig beeinflusst oder beschränkt“.257 In der Entscheidung Mitsumi/CVRD/Caemi 258 definierte die Kommission bei der Frage des Marktes für verschiedene Arten von Eisenerz diese kurzfristige Zeitspanne als einen Zeitraum von zumindest einem Jahr.259
b) Deutsches Recht
α) Bedarfsmarktkonzept
Traditionell erfolgt die sachliche Marktabgrenzung im deutschen Recht nach dem sog. Bedarfsmarktkonzept, das auf die funktionelle Austauschbarkeit der Produkte abstellt. Dieses zunächst im sog. Handpreisauszeichner -Beschluss260 des Kammergerichts angewandte Konzept fasst alle Waren oder gewerblichen Leistungen zu einem Markt zusammen, „die sich nach ihren Eigenschaften, ihrem wirtschaftlichen Verwendungszweck und ihrer Preislage so nahestehen, dass der verständige Verbraucher sie als für die Deckung eines bestimmten Bedarfs geeignet in berechtigter Weise abwägend miteinander vergleicht und als gegeneinander austauschbar ansieht“.261 Es können hierbei auch mehrere Märkte für ein konkretes Produkt bestehen.
So hat das Kammergericht im Fall Kfz-Kupplungen 262 zwischen einem Erstausstattungsmarkt und einem Ersatzteilmarkt für Kupplungsteile unterschieden. Das Schwergewicht müsse bei der Prüfung nicht dem abschließenden Verwendungszweck, sondern dem Abnehmerkreis beigemessen werden, da sich unterschiedliche Abnehmer für den Hersteller wesentlich anders darstellten.263 Verwiesen wird hierzu auch auf die Entscheidung Registrierkassen ,264 wonach bei einer Nachfrage auf unterschiedlichen Stufen (Verbraucher, Zwischenhändler, Wartungs- und Reparaturbetriebe) unterschiedliche Märkte anzunehmen seien: „[U]nter dem Gesichtspunkt der Bedarfsdeckung ist nicht allein die Beschaffenheit einer Ware an sich maßgebend, sondern jeweils vom Bedarf der Marktgegenseite auszugehen, der je nach der Wirtschaftsstufe, der die Nachfrageseite angehört, verschieden sein kann.“265 Die Bestimmung der funktionellen Austauschbarkeit ist nach Ansicht des BGH – grundlegend ist die Entscheidung Vitamin-B–12 266 – aus Sicht der Verbrauchsdisponenten zu bestimmen; dies zwar nicht durch lediglich oberflächliche und nur flüchtige Verbraucherauffassung, jedoch durchaus „‚ohne größeres Nachdenken‘ bzw. ‚ohne größere Überlegung‘“267; im konkreten Fall der Verschreibung hochdosierter Vitamin-B–12-Präparate komme es daher „nicht auf die wissenschaftlich begründeten Indikationen der in Frage stehenden Arzneispezialitäten, sondern vielmehr auf die tatsächlich bestehenden Verschreibungsgewohnheiten der niedergelassenen Ärzte“268 an. Dies wurde jedoch kurze Zeit später im Fall Valium 269 insofern relativiert, als auf die subjektiven Verschreibungsgewohnheiten nur zurückgegriffen werden solle, wenn nicht sich aus pharmakologisch-wissenschaftlicher Sicht ergebende objektive Gesichtspunkte zu einer Klärung führten.270
Weitere Entscheidungen der deutschen Rechtsprechung berufen sich zur sachlichen und räumlichen Marktabgrenzung immer wieder allein auf die funktionelle Austauschbarkeit von Produkten und Dienstleistungen und wenden so weiterhin das auf den Handpreisauszeichner -Beschluss271 zurückgehende Bedarfsmarktkonzept mit seinen ökonomisch fragwürdigen Implikationen (hierzu oben S. 86–89) an. So nimmt das OLG Düsseldorf im Beschluss Tagesspiegel/Berliner Zeitung II 272 getrennte sachlich relevante Märkte für lokale Abonnement-Tageszeitungen, überregionale Tageszeitungen und Straßenverkaufszeitungen an, da diese jeweils „unterschiedlichen Leserbedürfnissen dien[t]en und sie dementsprechend aus der Sicht der Nachfrager nicht als funktionell austauschbar angesehen [würden]. Regionale Abonnement-Tageszeitungen befriedig[t]en das spezifische Bedürfnis des im Verbreitungsgebiet der Zeitung wohnenden Lesers [...]. Im Vergleich zu den Straßenverkaufszeitungen [wiesen] die regionalen Abonnement-Tageszeitungen in der Breite und Tiefe der Berichterstattung, in der Art der Darstellung sowie in den Nachrichten- und Berichtsschwerpunkten wesentliche Unterschiede auf. Sie deck[t]en von daher zumindest aus der Sicht eines wesentlichen Teils der Leser einen anderen Bedarf [...] und gehör[t]en folglich zu einem eigenen sachlichen Lesermarkt. [...] Gerade diese Verschiedenheiten begründe[te]n indes die mangelnde funktionelle Austauschbarkeit von regionalen Abonnement-Tageszeitungen und Straßenverkaufszeitungen“.273 Wegen der bestehenden inhaltlichen und qualitativen Unterschiede zwischen Presseerzeugnissen verschiedener Produktmärkte sei auch nicht ersichtlich, inwiefern eine schnelle und mehr oder weniger kostenneutrale Produktumstellung von Straßenverkaufszeitungen auf eine regionale Abonnement-Tageszeitung möglich sein solle.274
Die Ausschließlichkeit des Merkmals der funktionellen Austauschbarkeit wurde vom BGH darüber hinaus in dem Beschluss Backofenmarkt 275 herausgestellt: Für die sachliche Marktabgrenzung sei „allein die funktionelle Austauschbarkeit der Produkte aus Sicht der Marktgegenseite“276 entscheidend.
Im Fall Philipp Holzmann/Hochtief 277 hat das Kammergericht für den Fall, dass das Bedarfsmarktkonzept zur Erfassung und Gewichtung von Wettbewerbsbeziehungen ungeeignet sei, eine Modifikation vorgenommen; zur Findung anderer Bewertungsmaßstäbe könne „grundsätzlich auch eine Marktabgrenzung nach Größenkriterien in Betracht kommen“.278 Im konkreten Fall ging es um die Abgrenzung von Märkten für Bauleistungen. Aufgrund der Vielfältigkeit der angebotenen und nachgefragten Bauleistungen sah das Kammergericht Anhaltspunkte für eine größenmäßige Abgrenzung des Marktes, wenn es auch eine strikte Größenschwelle, wie das Bundeskartellamt sie angenommen hatte, für bedenklich hielt, da die behauptete Kompetenzzäsur nicht voll bestätigt werden könne.279
Im Rahmen der Anwendung des Bedarfsmarktkonzepts soll nach einzelnen Entscheidungen auch eine anbieterseitige Beurteilung erfolgen und die Produktions- und Angebotsumstellungsflexibilität Eingang in die Abgrenzung des Marktes finden (hierzu aus ökonomischer Sicht oben S. 98–101). So stellte der BGH in seinem Beschluss Staubsaugerbeutelmarkt 280 die Frage, ob ein Hersteller von Staubsaugerbeuteln, „der bislang ein Marktsegment bedient [...], zur Erzielung eines besseren Preises bereit und in der Lage ist, seine Produktion kurzfristig umzustellen, um das andere Segment zu bedienen [...]“.281 In der Entscheidung National Geographic II präzisierte der BGH dies mit der Formulierung, Angebotsumstellungsflexibilität könne im Rahmen der Marktabgrenzung Berücksichtigung finden, „wenn die Anbieter bereit und in der Lage sind, ihre Produktion kurzfristig und mit wirtschaftlich vertretbarem Aufwand umzustellen“.282
Auch das Bundeskartellamt wendet das Kriterium der Angebotsumstellungsflexibilität regelmäßig an.283 So erörterte es in GoodMills/Erwerb der Mehlmarken „Diamant“ und „Goldpuder“ von PMG die Angebotsumstellungsflexibilität von Anbietern konventionellen Mehls in Bezug auf das Angebot von Bio-Mehl.284 In EDEKA/Kaiser’s Tengelmann diskutierte das Bundeskartellamt die Angebotsumstellungsflexibilität der Hersteller im Rahmen der Abgrenzung des Beschaffungsmarkts. Dabei differenziert das Bundeskartellamt zwischen einer rein technisch vorhandenen Umstellungsflexibilität und der Wirtschaftlichkeit einer solchen Umstellung. Es gehe „nicht nur um die Frage, inwieweit die gleichen Produktionsanlagen bei der Herstellung verwendet werden können. Vielmehr ist darüber hinaus auch die unternehmerische Grundausrichtung des Unternehmens in die Bewertung der Umstellungsflexibilität einzubeziehen. Diese kann der Wirtschaftlichkeit einer Umstellung entgegenstehen“.285 Entscheidend seien insoweit die wirtschaftlichen Anreize für eine Umstellung, gerade auch im Hinblick auf die Verhandlungsmacht des Abnehmers (hier des Handelsunternehmens).286
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