»Komm schon, beeil dich, Honey!«, wurde er aus seinen Gedanken gerissen. Kisha schnippte mit den Fingern und warf ihre beneidenswerte Haarpracht, einen armdicken Rastazopf, auf den Rücken.
Jake zog sich das Shirt über den Kopf und brachte die nächsten Schritte blind hinter sich.
»Himmel! Das fängt ja wieder gut an! Janine hätte mich wirklich vorwarnen können!«, zeterte Jake. »Wieso kommt sie erst so kurz vor knapp damit an, dass wir früher beginnen?« Er wusste, dass er Janine Unrecht tat. Sie konnte schließlich nichts dafür, dass diese Prescott sich nicht schon einen Tag eher gemeldet hatte. Das sah danach aus, als wüsste die Chefredakteurin, dass sie auch so kurzfristig noch eingeplant und ihrem Wunsch entsprochen würde. Er kannte sie nicht persönlich und durfte sich daher eigentlich kein Urteil erlauben, aber Sharon Prescott hatte bei Jake allein durch diese Aktion schon Minuspunkte auf ihrem Konto verbucht.
Jake konnte nur hoffen, dass nach diesem holprigen Start der Tag wieder geradliniger verlief.
Ein stechender Schmerz durchzuckte seinen Fuß, als ihn plötzlich eine Wand aus weicher Körpermasse abbremste und sein Zeh durch den Stoß gegen Kishas Schuhe nach hinten gebogen wurde. Jake biss die Zähne zusammen und stöhnte. Adrenalin flutete seinen Körper, trieb seinen Herzschlag in die Höhe. Humpelnd versuchte er, sein Gleichgewicht wieder zu erlangen, ohne den pochenden Zehen zu belasten. Zum Fluchen fehlte ihm der nötige Atem, was in diesem Augenblick sicher besser war.
Auf die Gefahr hin, die Naht dieses Shirt ebenfalls zu beschädigen, zerrte er am Stoff und blinzelte die Tränenflüssigkeit weg, während er nach Luft schnappte. Sein Brustkorb entspannte sich langsam und es dauerte einen Moment, bis die Punkte sich auflösten, die vor ihm zu schweben schienen.
Jake fragte sich, ob Kisha das Anrempeln überhaupt bemerkt hatte. Sie stand reglos vor ihm und starrte in den angrenzenden Salon. Dort hatte Charly neben dem Interviewbereich, der aus einem Tisch und zwei Sesseln bestand, bereits die Scheinwerfer in Betrieb genommen. Daneben stand ein Typ und starrte zu ihnen herüber. Jake war sicher, dass dieser Mann ihm aufgefallen wäre, wenn er ihn zuvor schon einmal gesehen hätte. Er suchte in den unzähligen Gesichtern, die er in der Vergangenheit abgespeichert hatte, nach einer Übereinstimmung. Nichts – er blieb ein Fremder. Einen Wimpernschlag später hatte Jake ihn abgecheckt und ihn anhand seiner äußeren Attribute beurteilt. Studien belegten glaubhaft, dass innerhalb von Millisekunden der erste Eindruck entstand, der gnadenlos über Sympathie oder Ablehnung entschied. Genauso wie in den Produktionsstraßen mancher Firmen in atemberaubender Geschwindigkeit Aufnahmen gemacht wurden, um dann bei Mangel der Ware durch einen elektrischen Befehl das entsprechende Objekt durchfallen und mit einem seelenlosen Schubs aussortieren zu lassen.
Er wusste, er selbst bildete da keine Ausnahme, war von den uralten Verhaltensmustern nicht ausgenommen. Der Typ bestand den Test. Er war etwa so groß wie Jake und vermutlich auch im selben Alter. Braunes Haar, das zwar modisch geschnitten, aber längst nicht so perfekt gestylt war wie Jakes. Allerdings musste man ihm zugutehalten, dass ihm sicher die Wind- und Wetterattacken bei der Anreise zum Hotel zugesetzt hatten und er sich nicht wie Jake vertrauensvoll in Kishas Hände hatte begeben können. Lässige Jeans betonten die langen Beine. Keine MacKay, aber das Interesse für die neue Marke konnte im Laufe des Interviews sicher noch geweckt werden. Stehen würde sie ihm auf jeden Fall, befand Jake. Der Blick des Journalisten wirkte offen mit einem Tick Unsicherheit, was keinen Widerspruch zum kantigen Gesicht und den breiten Schultern darstellte, sondern durchaus harmonierte. Alles in allem war er von der Gattung Kumpeltyp – mit einer Spur perfekter Schwiegersohn.
So angenehm er das Erscheinungsbild seines Gegenübers auch fand, so enttäuscht war er, das Buffet nicht für sich allein zu haben. Der herrliche Duft, den das Essen verströmte, stieg ihm in die Nase. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen und Jake schluckte angestrengt. Tja, noch schnell etwas zu stibitzen, konnte er jetzt wohl vergessen. Dabei roch es so verführerisch, dass sein Magen erneut zu grummeln begann. Wenn Janine sich treu geblieben war, dann befand sich im anderen Raum ein fulminantes Buffet mit allem, was das Herz begehrte, das er aber leider nicht genießen durfte. Vor seinem inneren Auge tauchten Rühreier, Cerealien mit Knusperstückchen und Fettgebackenes auf. Speckstreifen vollendeten die Folter.
»Guten Morgen.« Der Fremde wirkte ein wenig steif, war aber offensichtlich in der Lage zu sprechen. So weit, so gut, schoss es Jake durch den Kopf. Das war vermutlich die Kategorie ›überforderter, ehrfürchtiger Ersttäter, der umsorgt werden musste‹. Er wusste gar nicht mehr, wann er begonnen hatte, Kategorien zu erstellten und Menschen, vorzugsweise Journalisten, diesen zuzuteilen. So gab es zum Beispiel noch die ›karrieregeilen Schleimer‹, ›die Anbetenden‹ oder ›die Hinterlistigen‹, die plötzlich mit einer zweideutigen Frage über sein Privatleben daherkamen, nachhakten und sich notfalls wie ein Pitbull verbissen, um ganz frech auszutesten, ob er seine Überraschung und Unsicherheit hinter einem Pokerface verstecken konnte.
Die Schublade, in die er dieses gutaussehende Exemplar gesteckt hatte, war ihm da bei Weitem am liebsten. Auch wenn ein Makel blieb – der Typ war Journalist.
Der Schmerz in seinem Fuß ließ merklich nach. Also war es jetzt möglich, sich mehr auf sein Gegenüber zu konzentrieren.
»Janine hat mich gebeten, hier zu warten.« Er warf einen flüchtigen Blick zu der Tür, durch die er den Salon wohl betreten hatte, als erwartete er, die Assistentin dort zum Beweis vorzufinden.
Jake nahm hinter sich Geräusche wahr, schloss seinen Mund, ohne zu antworten, und wandte sich kurz um. Janine war im Anmarsch. Die Redewendung ›Wenn man vom Teufel spricht‹ traf es ungemein. Erstaunlicherweise blieb sie trotz ihrer energischen Schritte nicht mit ihren Absätzen im Boden stecken, sondern hackte weiter ihrem Ziel entgegen.
»Oh, gut! Ihr habt euch gefunden! Dann ist ja alles in bester Ordnung.« Ein ironischer und zugleich vorwurfsvoller Unterton hatte in ihren Worten mitgeschwungen. Von wegen in bester Ordnung. Es war doch nun wirklich nicht seine Schuld, dass sie unter Zeitdruck standen und Janine durch die Räume hasten musste! Jake hielt für eine Sekunde den Atem an und rief sich in Erinnerung, dass sie beide nicht allein waren. Er wusste, dass er die aufmüpfige Bemerkung, die ihm auf der Zunge lag, hinunterschlucken musste.
Atemlos blieb Janine bei Kisha und Jake stehen, der nicht überrascht gewesen wäre, wenn es den Knopf, der die Bluse auf Höhe ihrer Brüste im Moment noch zusammenhielt, mit einem leisen ›Plopp‹ abgesprengt hätte. »Der Redaktion von WM wurde das erste Interview zugesagt. Nun sollten wir aber wirklich beginnen«, drängte sie, als hätte er zuvor widersprochen. Kühl verzog sie ihre Lippen zu einem Lächeln. Nach einem eiligen Blick auf ihr Clipboard wirbelte Janine herum und verschwand wieder.
Jake sah ihr nach und verspürte Widerwillen. Bildete er sich ihre herablassende Art nur ein? Reagierte er gereizt, weil er übernächtigt war oder sich vor dem Typ keine Blöße geben und wie ein unmündiger Trottel dastehen wollte? Er wusste auch ohne ihre Bevormundung, was er zu tun hatte. Es fehlte gerade noch, dass sie ihm wie einem Welpen den Kopf tätschelte. Jake riss sich zusammen und ließ sich nichts anmerken. Schließlich nutzte es niemandem, wenn sie sich stritten – außer natürlich dem Journalisten, wenn er Zeuge wurde und eine Story daraus machte.
Als hätte jemand einen Startschuss abgegeben, hakte Jake das, was in den vergangenen Minuten geschehen war, ab und schaltete in seinen Interviewmodus. Lächeln, aufmerksam, freundlich und gesprächig sein – aber auch nicht zu viel preisgeben, war das Motto.
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