Ich informierte am folgenden Montagmorgen das Verfassungsgericht mit einem über das Wochenende diktierten Schriftsatz; Prof. Böckenförde war darüber vorab informiert. Das Verfassungsgericht beriet noch am Montagnachmittag und schickte mir am Dienstag ein Schreiben mit den folgenden Kernaussagen zu:
– Das Verfassungsgericht wolle eine pauschale Lösung: Die „stadtwerkefähigen“ Gemeinden sollten die örtlichen Stromversorgungsanlagen erhalten, im Gegenzug würden die ihnen gesetzlich zustehenden Aktien übertragen;
– ein bestimmtes Verfahren der Übertragung des örtlichen Versorgungsvermögens
– Abspaltung oder Einzelübertragung – schlage das Gericht nicht vor;
– die Durchführung der Anlagenübertragung noch durch die Treuhandanstalt eröffne aber den Weg, die Ausgliederung der Anlagen zugleich bei der Bewertung des Unternehmens und damit für den von den EVU zu entrichtenden Kaufpreis für ihre Anteile zu berücksichtigen;
– der Verständigungsvorschlag solle für alle Gemeinden gelten, auch die nicht beschwerdeführenden;
– die Restitutionsansprüche (soweit sie auf dasselbe Vermögen gehen) würden dadurch faktisch miterledigt.
Besondere Bedeutung hatte der Hinweis des Verfassungsgerichts, dass sowohl die Pauschallösung als auch die Erledigung der Restitutionsansprüche allen Beteiligten nütze und damit auch gesamtwirtschaftlich Bedeutung habe.
Am Donnerstag, den 12.11.1992, fand auf dem Flughafen Frankfurt das Fortsetzungsgespräch statt. Die Besetzung war wesentlich größer. Insbesondere war Staatssekretär von Würzen da. PreussenElektra-Chef Krämer erschien allerdings nicht; dafür nahm an seiner Stelle Vorstand Gaul teil. Man munkelte, dass Krämer damit ausdrücken wollte, einem Kompromiss nicht gerade zugeneigt zu sein. Die Stromseite sperrte sich gegen das Abspaltungsverfahren. Falls sich bei der Bewertung der Anlagen eine Differenz zwischen deren Wert und dem der Aktien ergab, sollte ein Spitzenausgleich der Bund übernehmen (der dem zustimmte), Kommunen, die Konzessionsverträge mit Ausstiegsklauseln geschlossen hätten, sollten auf die Anwendung der Ausstiegsklausel verzichten, Stadtwerke sollten sich verpflichten, ihren Strom zu 70 % beim Regionalversorger zu beziehen und Strom selbst nur in vorzugsweise wärmegeführten Heizkraftwerken zu erzeugen.
Gerade der letztere Punkt war für die Kommunen unannehmbar. Denn aus ihren Erfahrungen mit dem Betrieb von Heizkraftwerken für die kommunale Fernwärme ergab sich, dass der Eigenstromanteil aus diesen Anlagen weit höher war als 30 %. Einige Tage später debattierte der Bundestag über einen SPD-Antrag zu dem Vergleichsvorschlag. Alle Redner, einschließlich des parlamentarischen Staatssekretärs im Wirtschaftsministerium, plädierten für den Vergleichsvorschlag. Auch der energiepolitische Sprecher der CDU-Bundestagsfraktion, Seesing, sprach sich für den Vorschlag aus. Der Antrag wurde aber nicht angenommen, sondern trotz des Widerstands der SPD an den Wirtschaftsausschuss verwiesen. Ausschlaggebend war, dass die Vergleichsverhandlungen noch nicht beendet waren.
Einige Tage später ging die schriftliche Fassung einer Verständigungslösung ein, die offenbar zwischen BMWi und Stromseite ausgehandelt war. Die Tauschlösung – Anlagen gegen Aktien – war darin zwar enthalten. Jedoch wurde gefordert, dass Konzessionsverträge bindend bleiben sollten, auch wenn Ausstiegsklauseln vereinbart waren. Auch bei der Braunkohleproblematik zeigte sich keine Bewegung. In Arbeitsgruppen wurde dann beleuchtet, welchen Umfang Konzessionsverträge mit und ohne Ausstiegsklauseln eigentlich hatten. Die Stromseite befürchtete nämlich einen „Flächenbrand“. In der nächsten Sitzung wiederum in Frankfurt kam es völlig unerwartet zu einem Vorschlag, den Vorstand Strauß vom Bayernwerk vorlegte, der offensichtlich mit den anderen „Stromern“ nicht abgestimmt war. Danach sollte die Abnahme von 70 % Braunkohlestrom beim Regionalversorger „angestrebt“ werden; die kommunale wärmegeführte Stromerzeugung könne „im Einzelfall“ auch höher als 30 % sein. Dieser Vorschlag fand dann Eingang in die Verständigungslösung. Am 22.12. wurde sie unter Dach und Fach gebracht:
– Pauschaler Tausch Anlagen gegen Aktien;
– Auskehrung des Vermögens nach Erhalt der § 5-Genehmigung;
– Abschluss eines Stromlieferungsvertrages mit Laufzeit 20 Jahre mit Braunkohleklausel;
– abgeschlossene Konzessionsverträge ohne Ausstiegsklausel sollten bestehen bleiben; in den übrigen Fällen sollten die EVU den Kommunen die Bestandskraft bestehender Konzessionsverträge mit Öffnungsklausel nicht entgegenhalten, wenn eine Genehmigung nach § 5 erteilt würde.
Sodann sollten sich die Kommunen in ihren Aufsichtsgremien mit dem Verständigungsvorschlag befassen und die Verfassungsbeschwerden bis zum 31.1.1993 zurücknehmen.
Einvernehmen bestand darin, dass für die Gasseite entsprechende Vereinbarungen getroffen werden sollten. Die Stimmung war freilich ganz anders als beim Strom. Denn die Gaswirtschaft wollte keinesfalls einen Tausch Kapitalanteile an den bereits in GmbHs umgewandelten Regionalgesellschaften gegen die kommunalen Netze und Kunden. Einerseits machte das Bundeskartellamt Druck, um Konglomerate mit Strom, Gas und Fernwärme in einer Hand zu verhindern. Andererseits traten auf Seiten der Gaswirtschaft Anwälte auf, die deren Interessen erbittert verteidigten. In einem Gespräch am 12.1.1993 im Bundeswirtschaftsministerium verständigten sich die Beteiligten schließlich dahin, dass eine Kommune im Falle der Genehmigung nach § 5 EnWG auch Gasstadtwerke ohne Zwangsbeteiligung eines westlichen oder Bezirks-EVU gründen könne. Soweit in Verträgen zur Vermögensübertragung bereits Kaufpreise und die Verfahren zu deren Ermittlung vereinbart waren, sollten auf die Kaufpreise der Wert der Anteile an der abgespaltenen regionalen Gasversorgung und etwaige Restitutionsansprüche angerechnet werden. Für die Bewertung sollte der Ertragswert maßgeblich sein. Dessen Ermittlung und die Anrechnungen blieben allerdings Jahrzehnte streitig.
Nach diesem Erfolg zog sich aber die Herbeiführung der Zustimmung der Kommunen doch noch lange hin. Insbesondere die 17 Thüringer Gemeinden, deren Verfassungsbeschwerden der damalige Geschäftsführer des Gemeinde- und Städtebundes Gnauck organisiert hatte, sperrten sich gegen die Verständigungslösung, die sie als nicht akzeptabel empfanden. Ähnlich zähen Widerstand leistete die Stadt Boizenburg im westlichen Mecklenburg-Vorpommern. Erst nachdem das Bayernwerk auf Gnauck zugekommen und weitere Hilfe bei der Aufstellung der Stadtwerke versprochen hatte, erklärte dieser seine Bereitschaft, die Rücknahme der Verfassungsbeschwerden zu empfehlen. Einige Jahre später wurde Gnauck mit einem Vorstandssitz in der fusionierten E.ON Thüringer Energie AG belohnt; dabei spielte auch eine Rolle, dass Gnauck über Jahre hinweg im Aufsichtsrat der E.ON Thüringen die Belange der kommunale Aktionäre vertreten hatte.
Die Kommunen hatten durchgesetzt, was ihnen die Volkskammer als Mitgift mitgegeben hatte: Den Anspruch auf das kommunale Versorgungsvermögen, ohne Geld in die Hand nehmen zu müssen. Die Braunkohleklausel ließ ihnen Freiheit zur Eigenerzeugung in selbstbestimmten Umfang. Kommunen, die Konzessionsverträge mit Ausstiegsklausel vereinbart hatten, konnten sich daraus lösen. Nur diejenigen Kommunen, die insoweit keine Vorsorge getroffen oder sich an der Verfassungsbeschwerde nicht beteiligt hatten, konnten von deren Segnungen nicht direkt profitieren. Aber auch in diesen Fällen konnte die kommunale Kapitalbeteiligung am Regionalversorger für den Kauf des Versorgungsvermögens eingesetzt werden, wie es etwa die Stadt Neubrandenburg getan hat. Eine Hürde stellte freilich häufig die § 5-Genehmigung dar: Das Verfahren wurde etwa im Land Brandenburg so engherzig praktiziert, dass im Einzelfall Klagen erhoben werden mussten. Im Ergebnis sind allerdings bis heute über 140 Stadtwerke mit eigenen Strom-, Gas- und Fernwärmeversorgungen entstanden. Ohne die Aktivisten der Ersten Stunde, Ministerialrat Apfelstedt aus Hessen, Energie-Abteilungsleiter Dr. Spreer aus dem Saarland mit seinem Staatssekretär Haase und die Initiatoren der Kommunalverfassungsbeschwerde wäre das nicht möglich gewesen.
Читать дальше