9. Der erste Stadtwerkskongress und die Kommunalverfassungsbeschwerde
Am 24.6.1991 hatte nämlich in Berlin der Kongress „Auf dem Weg zu neuen Stadtwerken. Hemmnisse – Erfahrungen – Ergebnisse“ stattgefunden; und zwar im vormaligen FDGB-Haus, dann Berliner Congreß Center (und jetzt Chinesische Botschaft). Einlader waren die Städte Leipzig, Schwerin, Jena, Wernigerode und Zehdenick, eine aus jedem Bundesland, große, mittlere, kleine. Die Einladungen wurden von Potsdam aus verschickt, um jeglichen Argwohn zu vermeiden, es könne sich um eine fremdbestimmte Veranstaltung handeln. Und in der Tat waren viele Impulse vom Leiter des Leipziger OB-Büros Michael Weber und dem Geschäftsführer der Wernigeroder Stadtwerke, Wenzislav Stoikow, ausgegangen. Eine ganz wichtige Rolle spielte Bürgermeister Holzgrebe aus Jena, der sogar eine öffentliche Zuwendung für den Kongress locker machte. Auf dem Kongress waren 123 Städte vertreten, überwiegend mit den Aufbaubeauftragten für Stadtwerke aus den Stadtverwaltungen oder auch schon Geschäftsführern, aber auch vielen Bürgermeistern. Referate über die Rechtslage wurden gehalten, darunter auch eine durchaus wohlwollende eines Mitarbeiters der Treuhandanstalt, sowie von Ministerialrat Apfelstedt aus dem Hessischen Wirtschaftsministerium, der den Städten erklärte, sie bräuchten für ihre Stadtwerke keine Betriebsgenehmigung nach § 5 des Energiewirtschaftsgesetzes, weil sie vom Bestandsschutz ihrer früheren Stadtwerke zehren könnten. Im Mittelpunkt stand eine – vorab vorbereitete – Resolution, die in der Absicht gipfelte, eine Kommunalverfassungsbeschwerde zur Sicherung der kommunalen Rechte zu erheben.
Die Verfassungsbeschwerde sollte im Urlaub entstehen. Der Aktenberg, der für die Verfassungsbeschwerde vorzubereiten war, wuchs immer mehr. In unserem Ferienhaus gab es keine Zeit zum Erholen. Mich erreichte nämlich ein Telefonanruf mit dem Hinweis, dass die Treuhandanstalt nunmehr, nach dem Schweriner Sieg, die Stromverträge durch Auskehrung der Kapitalmehrheiten an dem Bezirks-EVU vollziehen wolle. Das war an einem Wochenende. Am Montag rief ich beim Verfassungsgericht an und erfuhr, dass Richter Prof. Böckenförde, der für die kommunale Selbstverwaltungsgarantie des Art. 28 Abs. 2 GG zuständige Richter, am kommenden Freitag den letzten Tag im Gericht sein werde, um danach seinen Jahresurlaub anzutreten. Das erzwang konzentriertes Arbeiten. Küche und Wohnzimmer waren der Verteilung von Akten vorbehalten. Die Kinder mussten auf den Fußspitzen durchlaufen. Am Mittwoch war die Verfassungsbeschwerde fertig (73 Seiten, 200 Seiten Anlagen). Ein Kernstück fehlte allerdings noch, ein Teil der verfassungsrechtlichen Argumentation, den der Mainzer Prof. Hans Heinrich Rupp als Prozessvertreter der Stadt Forst, beisteuern wollte. Prof. Rupp, den ich aus meiner Mainzer Assistentenzeit kannte, war von Günther Nooke, Forster Abgeordneter, angesprochen worden.
Es gab allerdings ein Problem: Vollmachten hatte ich nämlich nur von den Städten Finsterwalde, Jena, Neuruppin, Potsdam, Wernigerode und Zehdenick, also nur von sechs Städten. Aber es gab noch die Anwesenheitsliste des Stadtwerkskongresses. Ich ernannte kurzer Hand alle in der Anwesenheitsliste aufgeführten Kommunen zu Beschwerdeführerinnen in dem Kommunalverfassungsbeschwerdeverfahren. Zurück in Deutschland am Mittwochabend waren alle Schriftsatzteile fertig, meine Sekretärin um vier Uhr des Nachts auch; dann begannen die redaktionellen Tätigkeiten vor allem an den vielen, vielen Anlagen. Am Donnerstag gegen 16 Uhr übergab ich die Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht dem Mitarbeiter von Prof. Böckenförde, um Zeit für die Registrierarbeiten zu sparen. Damit begannen die spannendsten Stunden meines Arbeitslebens.
Denn das Verfassungsgericht hatte natürlich noch nicht über die Verfassungsbeschwerde zu entscheiden, aber über einen Eilantrag, mit dem das Bundesverfassungsgericht dem Bundesfinanzministerium und der Treuhandanstalt untersagen sollte, die Kapitalmehrheiten auszukehren. Nach der beim Verfassungsgericht üblichen Abwägung musste eine solche Anordnung eigentlich ergehen. Wäre die Verfassungsbeschwerde nämlich begründet gewesen, aber die Privatisierung der Bezirks-EVU vollzogen worden, hätte die positive Verfassungsbeschwerdeentscheidung nichts mehr gebracht. War sie hingegen unbegründet, war zwar Zeitverlust eingetreten, aber kein irreparabler Rechteverlust.
Gegen 13 Uhr erreichte mich ein Anruf aus dem Bundesverfassungsgericht: Das Bundesfinanzministerium habe erklärt, dass die Stromverträge einstweilen nicht vollzogen würden. Die Treuhandanstalt werde eine entsprechende Erklärung noch abgeben. Hurra! Am Abend dieses wundervollen Tages ging ich erst mal schön essen und fuhr am nächsten Tag ins Ferienhaus zurück, wo inzwischen alles aufgeräumt war.
Danach begann allerdings eine sehr spannende Phase. Denn in der Verfassungsbeschwerde hatte ich versprochen, die noch fehlenden 117 Vollmachten nachzureichen. Die Bereitschaft der Kommunen, mich mit einer Vollmacht zu versehen, wofür immer eine Entscheidung des Stadtparlaments erforderlich war, waren aber durch zwei Bedingungen sehr erleichtert:
– Zum einen konnte ich ihnen die Verfassungsbeschwerde ja mit der Erklärung der Treuhandanstalt schicken, dass die Stromverträge nicht vollzogen werden würden, so dass es ihnen leichter fiel, diese „Geschäftsführung ohne Auftrag“ nunmehr mit dem erforderlichen Auftrag zu versehen;
– Außerdem schickte ich ihnen eine Honorarvereinbarung, die eingeschlossen die Mehrwertsteuer unter 1.000,00 DM lag – es sollte ja keine Abzocke stattfinden.
Und die Vollmachten kamen. Leipzig wollte die Verfassungsbeschwerde aber nicht unterstützen. OB Lehmann-Grube erklärte, vom Gerichtsweg halte er nichts. Dem stimmte sein Stadtparlament allerdings nicht zu. In einer Anhörung hatte ich Gelegenheit, die Position der Verfassungsbeschwerde im Rat zu verdeutlichen, und zwar vor dem RWE-Syndikus Mutschler, dessen Beitrag mir vorab zugespielt worden war. So konnte ich auf alle seine Argumente eingehen, bevor er sie überhaupt gebracht hatte. Glück muss man haben – und der Rat beschloss den Beitritt zur Verfassungsbeschwerde. OB Lehmann-Grube nahm es wörtlich, übersandte die Vollmacht und versprach im Anschreiben jegliche Unterstützung für die Verfassungsbeschwerde – die er auch tatsächlich zuteil werden ließ.
Die Auseinandersetzung vor Gericht war allerdings nicht einfach. Für Bayernwerk, PreußenElektra und RWE vertrat Prof. Ossenbühl und für die fünf übrigen EVU Prof. Löwer die Auffassung, die kommunale Selbstverwaltungsgarantie gebe eine Art Anspruch für die Kommunen nicht her, mit dem erforderlichen Versorgungsvermögen ausgestattet zu werden; schon wegen der gesetzgeberischen Akte des Einigungsvertrags. Daher gab es keinen Anspruch auf Rechtspositionen, die die Volkskammer zur Angleichung des Standards der kommunalen Selbstverwaltung an die selbstverständlichen im Westen vorgesehen hatte. Auch lief eine publizistische Kampagne, und zwar nicht nur in den Medien, sondern auch im juristischen Schrifttum, teils für und teils gegen die kommunalen Positionen.63 Beim Gericht gingen allerdings auch erfreuliche Stellungnahmen ein: Das Bundesverfassungsgericht hatte die Verfassungsbeschwerde nämlich dem Bundestag, dem Bundesrat, der Bundesregierung sowie allen Landesregierungen zugeleitet und Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Eine ausführliche und höchst interessante Stellungnahme kam aus dem Saarland. Mit ihr wurden die unterschiedlichen Interessenlagen des Bundes und der verschiedenen Länder dargelegt: Während beispielsweise Hessen und das Saarland auf Seiten der Kommunen stritten, standen die Braunkohleländer Brandenburg und Sachsen durchaus hinter den Stromverträgen. Das Verdienst der Saarländischen Stellungnahme war es, unter Verzicht auf juristische Darlegungen Struktur und Funktion der Stromverträge darzulegen, soweit sie auf Übertragung der westdeutschen Monopolstrukturen auf die neuen Länder sowie auf Generierung hoher Strompreise ausgerichtet war. Dieser Aspekt war besonders interessant, weil das Strompreisniveau in den neuen Ländern eigentlich weit unter dem westdeutschen hätte liegen müssen, weil der Strom in abgeschriebenen Anlagen auf der Basis heimischer Braunkohle erzeugt wurde und deswegen nach den Vorschriften der Bundestarifordnung Elektrizität eigentlich sehr niedrig sein musste. Das Gegenteil war der Fall – was noch zu untersuchen sein wird.
Читать дальше