Osvaldo schwitzte Blut und Wasser. El Sordo war ebenfalls höchst mulmig zumute. Cuchillo aber lachte schallend.
„He!“ rief er und klopfte dem Mädchen derb auf die Schulter. „Du gefällst mir! So eine freche Schnauze wie dich können wir noch brauchen! Wenn wir dem Drecksgesindel in der Residenz einheizen, kannst du mir mal zeigen, wie mutig du bist!“
Maria verzog keine Miene. „Das werde ich tun“, erwiderte sie.
„Na los“, sagte Cuchillo, „Klettere auf den Kutschbock. Ich setze mich neben dich, Junge. Bin heute ganz schön rumgelaufen. Mir tun die Füße weh. Wir fahren zur Kaschemme.“ Er deutete auf die drei Soldados, auf Osvaldo und El Sordo. „Ihr marschiert hinter uns her. Wir dürfen den Karren nicht überladen. Übrigens ist auch das Gespann beschlagnahmt. Freunde. Wir werden es für den Transport von Waffen und Munition zur Plaza benutzen.“
„Klar doch“, entgegnete Osvaldo. Innerlich aber kochte er. So ein Pech! Wären sie etwas eher getürmt, hätten Cuchillo und seine Kerle sie nicht mehr erwischt. So aber waren sie gezwungen, sich rekrutieren zu lassen. Das war aber noch nicht das Schlimmste. Wenn Cuchillo herauskriegt, daß Maria ein Mädchen war, würde der Teufel los sein.
Was haben wir uns bloß eingebrockt? dachte Osvaldo, während er hinter dem Gespann hertrottete. Und El Sordo ließ die Schultern und den Kopf hängen. Er schnitt eine Grimasse, als schreite er zu seiner eigenen Hinrichtung.
Arne von Manteuffel lag immer noch bei Jussuf und Jörgen Bruhn auf dem Dach der Faktorei. Er hatte jetzt ein Spektiv zur Hand genommen, zog es auseinander und spähte hindurch. Seine Aufmerksamkeit galt dieses Mal aber nicht den Vorgängen in der Stadt, sondern den beiden Forts am Hafeneingang von Havanna.
Sowohl das Castillo de la Punta im Westen als auch das Castillo del Morro im Osten waren nur noch mit einem Viertel der ursprünglichen Wachmannschaft besetzt – soviel war bekannt. Die beiden Dreiviertel der Soldaten waren zu Beginn der Unruhen an die Miliz und an die Stadtgarde abgegeben worden. Inzwischen verstärkten sie die Besatzung der Residenz.
Am 25. Juni, vor zwei Wochen also, hatten die Unruhen in Havanna angefangen. Seitdem hockten die beiden Restbesatzungen ziemlich tatenlos in den Forts und wußten nicht recht, wie sie sich verhalten sollten.
Daß in der Stadt die Hölle los war, sahen und hörten sie. Sie konnten sich auch ausrechnen, daß ihre Hilfe sicherlich gebraucht wurde. Doch ohne einen entsprechenden Befehl konnten sie nicht handeln. Deshalb saßen sie weiterhin auf ihrem verlorenen Posten.
Der Befehl erreichte die Fortmannschaften an diesem Vormittag. Sie sollten sich zur Residenz durchschlagen, um sich dort in die Verteidigung einzureihen. Die Soldaten atmeten auf. Endlich! Sie hatten lange genug auf diese Order warten müssen.
Der Melder hatte sich auf Umwegen zum Castillo de la Punta gepirscht und erreichte das Fort gegen zehn Uhr. Hier erstattete er einem Subteniente Bericht.
Der Subteniente ließ die Besatzung vom gegenüberliegenden Castillo del Morro mit einer Jolle abholen. Die Forts waren zu diesem Zeitpunkt mit noch je zehn Mann besetzt. Im Westfort führte der Subteniente das Kommando, im Ostfort waren die Soldaten einem ergrauten Sargen to unterstellt.
Vom Dach der Faktorei sah Arne, wie die Besatzung vom Castillo del Morro herübergeholt wurde.
„Da tut sich was“, sagte er zu seinen beiden Kameraden. „Truppenbewegungen. Ob die Señores die Forts jetzt wohl ganz räumen?“
Jussuf und Jörgen schauten abwechselnd durch ein zweites Spektiv.
„Es sieht ganz danach aus“, sagte Jörgen. „Demnach werden die Castillos gleich ganz verwaist sein.“
„Herrenlos“, sagte Jussuf grinsend. „Na, ich kann’s verstehen. Die Soldaten werden in Havanna gebraucht. Dort draußen drehen sie ja nur Däumchen. Und wer soll schon kommen, um ihre Ruhe zu stören? Schiffe etwa?“
„Ja, wer schon!“ Jörgen lachte.
„Doch keine Schiffe“, sagte Arne grinsend.
Die drei Männer beobachteten, wie kurz darauf die beiden Fortbesatzungen das Castillo de la Punta verließen und in Richtung Gouverneursresidenz marschierten. Die Soldaten waren allesamt schwer bewaffnet. Allerdings näherten sie sich der Plaza, an der die Residenz stand, nicht auf direktem Weg, sondern benutzten Gassen und Seitengänge. Der Trupp wurde von dem Subteniente angeführt.
„Achtung“, sagte Jussuf plötzlich. „Jetzt wird es brandheiß. Da kommt Cuchillo.“
Tatsächlich – von dem anderen Ende einer Gasse, durch die der Trupp gerade marschierte, näherte sich Cuchillo. Er hockte auf dem Kutschbock eines Maultierkarrens. Neben ihm saß ein Junge, der die Zügel des Tieres hielt. Hinter dem Karren schritten fünf Kerle her.
„Hol’s der Henker“, sagte Jörgen Bruhn. „Das gibt Zunder.“
Er hatte noch nicht ganz ausgesprochen, da richtete sich Cuchillo kerzengerade auf dem Kutschbock auf. Im nächsten Moment griff er zur Pistole. Seine Kerle duckten sich und huschten in nahe Hauseingänge. Dann ging alles sehr schnell. Cuchillo eröffnete das Feuer auf die Soldaten. Der Schuß knallte in der Gasse. Ein Befehl des Subtenienten gellte, und sofort gingen auch die Soldaten in Deckung. Knatternd spuckten die Musketen ihre Ladungen aus. Pulverqualm wehte aus der Gasse hoch.
Maria, das Mädchen, ließ sich gedankenschnell vom Kutschbock fallen. Das Maultier gab einen schrillen Laut von sich und ging mit dem Karren durch. Cuchillo warf sich auf das Pflaster der Gasse. Die drei „Soldados“ der Bastida-Truppe, Osvaldo und El Sordo versuchten, sich in Sicherheit zu bringen.
Osvaldo gelang es, in einen Stall zu kriechen, dessen Tür halb offenstand. Er kauerte sich hinter Strohballen. Sekunden später spürte er eine Bewegung neben sich.
„Maria“, flüsterte er entgeistert.
„Ja, ich bin’s.“
„Sei ganz still. Vielleicht haben wir Glück, und die Soldaten töten Cuchillo und seine Schläger.“
„Wo ist El Sordo?“ fragte das Mädchen.
„Ich weiß es nicht“, raunte Osvaldo. „Aber der schlägt sich schon durch. Verlaß dich drauf.“
Der Kampf in der Gasse dauerte nur wenige Augenblicke. Dem Subtenienten und den Soldaten gelang es, die drei Schläger der Bastida-Truppe zu erschießen. Cuchillo war plötzlich verschwunden. Und um Osvaldo und das Mädchen kümmerte sich keiner mehr.
Osvaldo und Maria lauschten den Stimmen der Soldaten. Der Subteniente gab seine Anweisungen. Die Toten wurden liegengelassen. Die Mannschaft setzte ihren Marsch zur Residenz fort. Allmählich entfernten sich die Schritte.
Der Dieb und das Mädchen atmeten auf. Maria wollte sich wieder erkundigen, wo der Taubstumme stecken könne, da bewegte sich die Stalltür. Knarrend öffnete sie sich. Osvaldo und Maria hofften, El Sordo schaue herein – doch es war Cuchillo, der sie mit kaltem Grinsen ansah.
„Ihr hättet euch am liebsten verdrückt, was?“ fragte er.
„Nein, das ist nicht wahr“, antwortete Osvaldo. „Nur haben wir mit unseren Messern wenig gegen die Soldaten ausrichten können.“
„Das stimmt“, pflichtete Cuchillo ihm bei. „Na ja, meine drei Kerle hat es erwischt. Bastida wird sich ein paar neue Soldados suchen müssen. Aber seht mal, wen ich hier habe.“ Er zerrte El Sordo zu sich heran und hielt ihn am Arm fest. „Der hatte sich in einem Haus versteckt“, erklärte Cuchillo. „Aber ich habe auch ihn wiedergefunden.“
„Wunderbar“, sagte Osvaldo. „Wir hatten schon Angst, man hätte auch ihn erschossen.“
„Den? Bei seinem Heldenmut?“ Cuchillo lachte. „Der hat höchstens die Hosen voll!“
Maria wollte darauf etwas entgegnen, doch Osvaldo legte ihr die Hand auf den Unterarm. Es hatte keinen Zweck, diesen Hundesohn Cuchillo unnötig zu reizen. Gerade jetzt nicht, nachdem er drei seiner Spießgesellen verloren hatte.
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