Wie ein Lauffeuer hatte sich verbreitet, was Bastida verkündet hatte. Fast schlagartig – wie die Ratten – waren diejenigen verschwunden, die zu feige waren oder keine sonderliche Lust verspürten, sich an einem Kampf gegen die Residenz zu beteiligen.
Aber es waren nicht wenige, die eine noch größere Beute witterten und jetzt bereit waren, sich Bastida zu unterstellen.
So ging die Rekrutierung in der Kaschemme zügig voran. Cuchillo und Gayo wanderten mit ihren Dreimanntrupps kreuz und quer durch die Stadt. Sie trieben die Kerle zusammen und verbreiteten Angst und Schrecken. Keiner konnte ihnen entgehen – auch jene nicht, die sich in den Häusern am Rande der Stadt verkrochen hatten.
Osvaldo sprang auf und lief zum Küchenfenster, als die Schüsse aus der Stadt erklangen. El Sordo folgte ihm.
Was ist los? stand in seinen fragenden Augen zu lesen.
„Sie ballern wieder herum“, sagte Osvaldo. „Vielleicht versuchen sie noch einmal, ins Gefängnis einzudringen. Die sind total verrückt.“
Maria betrat die Küche. Sie hatte gebadet und sich neu eingekleidet. Leider hatte sie nur Männersachen gefunden – das grobe Zeug des Stallburschen, der für Don Felipe die Pferde versorgt hatte.
„Was hat das zu bedeuten?“ fragte sie.
„Schüsse“, entgegnete Osvaldo. „In der Stadt. Aber wir haben hier nichts zu befürchten.“ Er drehte sich zu ihr um. „Na, siehst du. Jetzt schaust du wieder wie ein normaler Mensch aus.“
„Doch wie ein Junge, oder?“
El Sordo betrachtete das Mädchen ebenfalls. Sie hatte sich die Haare hochgesteckt und eine Mütze aufgesetzt. Das rauhe Baumwollhemd und die grobe Leinenhose waren ihr etwas zu groß. Der Taubstumme klatschte dennoch begeistert in die Hände.
„El Sordo hat recht“, sagte Osvaldo. „Du bist entzückend.“
Maria wurde rot im Gesicht. Sie räusperte sich und begann, den Tisch abzuräumen – um überhaupt etwas zu tun. „Es gibt ein Geheimversteck im Haus“, erklärte sie. „Ich weiß, wo es ist. Ich zeige es euch. Sicherlich hat Don Felipe sein ganzes Geld mitgenommen. Auch den Schmuck. Aber vielleicht sind ja doch noch ein paar Wertsachen drin.“
„Oh, das ist sehr nett von dir“, sagte Osvaldo.
El Sordo hatte wieder einen Blick aus dem Fenster geworfen. Plötzlich stieß, er einen zornigen Laut aus. Aufgeregt wies er auf den Hof. Osvaldo und das Mädchen eilten zu ihm und blickten über seine Schultern. Was sie sahen, entlockte ihnen ebenfalls wütende Rufe.
Zwei Kerle waren in den Hof eingedrungen. Jetzt versuchten sie, das Maultier samt dem Karren ins Freie zu zerren. Aber der Vierbeiner wehrte sich. Er stemmte die Hufe nach außen und gab Protestlaute von sich.
„Diese Satansbraten!“ stieß Osvaldo aus. „Die wollen unseren Burrito klauen! Und den Wein! Und den Schnaps!“
Schon zückte er sein Messer und stürmte nach draußen. Der Taubstumme und das Mädchen folgten ihm.
„Was fällt euch ein?“ schrie Osvaldo die Plünderer an. „Verschwindet! Das Gespann gehört uns!“
„Jetzt nicht mehr!“ brüllte der eine Kerl zurück.
El Sordo war noch vor Osvaldo bei den beiden Eindringlingen und hielt ihnen sein Messer unter die Nasen. Die beiden fluchten und griffen ebenfalls nach den Messern. Aber Maria biß dem einen in die Hand. Der Kerl schrie auf und ließ das Messer sogleich wieder fallen.
Osvaldo schnappte sich den anderen Kerl, drängte ihn gegen den Karren und drückte ihm die Klinge an die Gurgel.
„So was haben wir gar nicht gern“, sagte er drohend. „Und unser Burrito kann es auch nicht leiden, wenn man ihn zu etwas zwingen will.“
„Ich – es tut mir leid“, stammelte der Kerl.
„Das ist keine Ausrede“, sagte Osvaldo.
El Sordo nickte Maria grinsend zu. Toll hast du dich verhalten, wollte er ihr sagen. Sie lächelte zurück.
„Wir wollten türmen“, erklärte der in Bedrängnis geratene Plünderer. Der andere schwenkte seine schmerzende Hand und warf Maria haßerfüllte Blicke zu.
„Warum?“ fragte Osvaldo.
„In Havanna ist der Teufel los“, erwiderte der Kerl. „Bastida hat jetzt das Ruder in die Hand genommen. Mit dem Plündern sei Schluß, hat er angeordnet. Alle sollen sich in seiner Kaschemme einfinden. Jeder Mann wird rekrutiert – für den Sturm auf die Residenz.“
„Interessant“, brummte Osvaldo. „Und was ist mit dem Beutegut?“
„Das wird nicht mehr angekauft.“
„Überhaupt nicht mehr?“
„Nicht, bis die Residenz erobert ist“, entgegnete der Kerl.
„Nun ja“, sagte Osvaldo. „Dann haben wir in Havanna auch nichts mehr verloren. Für Bastida halte ich nicht meinen Kopf hin.“ Er warf einen raschen Blick auf die Ladefläche des Karrens. Der Wein und der Schnaps waren noch dort, wo El Sordo und er sie verstaut hatten. „In Ordnung“, sagte er zu dem Galgenvogel. „Ihr könnt verduften. Seid froh, daß wir euch nicht die Hälse abgeschnitten haben.“
Die beiden Eindringlinge rannten davon und waren im nächsten Augenblick vom Hof verschwunden. Osvaldo beratschlagte mit El Sordo und dem Mädchen.
„Was tun wir?“ fragte er. „Die Sache gefällt mir nicht.“
Der Taubstumme gab durch Zeichen zu verstehen, daß er ebenfalls nicht bereit sei, an dem Angriff auf die Residenz teilzunehmen. Und auch Maria durfte dieser Gefahr nicht ausgesetzt werden. Also gab es nur noch eins: Flucht.
„Und das Geheimversteck?“ fragte das Mädchen.
„Das lassen wir sausen“, erwiderte Osvaldo. „Wir haben jetzt keine Zeit mehr, es uns anzusehen. Wie ich Bastida kenne, hat der seine Truppe von Schlägern losgeschickt um Leute zusammenzuholen. Die können jeden Moment auch hier aufkreuzen.“
Hastig rüstete das Trio zum Aufbruch. Sie holten Sachen aus dem Haus, packten sie auf den Karren und dirigierten Burrito, das Maultier, in Richtung auf das Tor. Doch kaum waren sie draußen, da blieben sie wie gelähmt stehen.
Cuchillo und dessen drei Soldados versperrten ihnen den Weg. Cuchillo hatte die Hand auf den Kolben seiner Pistole gelegt und grinste höhnisch.
„Sieh mal an“, sagte er. „So eine Überraschung. Osvaldo und El Sordo. Na, wie geht’s euch denn so?“
Osvaldo hustete verlegen. „Ach, ganz gut“, antwortete er.
„Wohin geht denn die Reise?“ fragte Bastidas Leibwächter lauernd.
„Wir wollten gerade zum Hafen runter“, erklärte Osvaldo. „Wir haben wieder ein paar Sachen zu verkaufen.“
„Daraus wird nichts“, sagte Cuchillo kalt. „Bastida schließt keine Geschäfte mehr ab. Der Sturm auf die Residenz geht vor.“ Er setzte ihnen knapp auseinander, wie Bastidas Befehle lauteten.
„Ach so“, sagte Osvaldo. „Na, das ist nicht so schlimm.“ Er stieß El Sordo mit dem Ellenbogen an. „Hast du verstanden?“
Der Taubstumme gab durch einen dumpfen Laut zu erkennen, daß er Cuchillos Erläuterungen mühelos hatte folgen können. Er gestikulierte herum und bedeutete durch Gebärden, daß er Bastida, Cuchillo und die Soldados zum Teufel wünsche.
„Was meint er?“ wollte Cuchillo wissen.
Osvaldo grinste. „Er erklärt mir gerade, daß er bei dem Sturm auf die Residenz gern dabei wäre. Und ich habe auch nichts dagegen. Also, wir gehen runter zur Kaschemme und melden uns bei Gonzalo Bastida, während ihr weiter eure Runde dreht.“
„Wir begleiten euch“, sagte Cuchillo. „Wir haben unseren Rundgang nämlich soeben abgeschlossen.“ Er wies auf Maria. „Und wen haben wir da?“
„Das ist unser Kumpel Mario“, erwiderte Osvaldo geistesgegenwärtig.
„Kenne ich nicht“, sagte Cuchillo. Er trat auf Maria zu. „Neu in Havanna, Mario?“
„Ich bin erst seit ein paar Tagen hier.“
„Zart besaitet, was? Du siehst aus wie ein Mädchen.“
„Ich kann dir ja mal zeigen, wie schnell ich mit dem Messer bin!“ zischte Maria.
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