Nur einen ließen sie auf Cuchillos Befehl hin am Leben. Dieser Kerl kroch auf den Knien auf Cuchillo zu und rang die Hände.
„Gnade!“ jammerte er. „Erbarmen!“
„Zieh ab, du Ratte“, sagte Cuchillo verächtlich und nahm sein Messer wieder an sich. „Und laß dich hier nicht mehr blicken. Mit der Plünderei ist jetzt Schluß. Befehl von Gonzalo Bastida, kapiert?“
„Bastida, ja – kapiert“, stammelte der Kerl.
„In Bastidas Kneipe versammelt sich alles zum Sturm auf die Residenz des Gouverneurs“, sagte Cuchillo. „Waffen sind reichlich vorhanden. Wer zu feige zum Kämpfen ist, hat schleunigst aus Havanna zu verschwinden. Und wehe, wir erwischen noch einen von euch beim Klauen. Den legen wir um.“ Er wies zur Demonstration auf die Toten.
Der Kerl verschwand wie der Blitz. Im Flur des Hauses riß er noch schnell einen halbvollen Sack mit Beutegut an sich, dann stolperte er ins Freie. Er lief keuchend die Gasse entlang und prallte mit einem anderen Kerl zusammen.
„Was ist denn los?“ fuhr ihn der andere an. „Warum wird hier geschossen?“
„Alle tot“, japste der Kerl, der mit dem Leben davongekommen war.
„Was?“
„Meine Kumpane – tot.“ Der Kerl zitterte am ganzen Leib. Er konnte noch nicht richtig fassen, daß ihn Cuchillo und die Soldados verschont hatten. „Bastida will die Residenz stürmen. Keiner soll mehr plündern. Alle haben sich in die Kneipe zu verfügen.“
„Quatsch!“ brüllte der andere und stürmte weiter.
Er gelangte allerdings nur bis zur Tür des Mordhauses. Hier erschien in diesem Moment Cuchillo. Er zückte die Pistole, die er inzwischen nachgeladen hatte, zielte kaltblütig auf den Plünderer und schoß ihn nieder.
Die Soldados traten zu Cuchillo. Sie sahen den Toten und lachten hämisch.
„Weiter“, sagte Cuchillo. „Das reicht jetzt. Die Nachricht wird sich herumsprechen und wie ein Lauffeuer verbreiten. Wir brauchen die Kerle nur noch zusammenzutreiben.“
Vom Dach der Faktorei aus hatten Jussuf und Jörgen Bruhn, die zu dieser Stunde Ausguck hielten, alles beobachten können.
„Mann, ich werd’ verrückt“, entfuhr es Jörgen. „Was machen die denn? Murksen die sich jetzt untereinander ab?“
„Mal sehen“, erwiderte Jussuf nachdenklich. „Da steckt bestimmt war dahinter.“
„Wer ist denn dieser Kerl, der eben den anderen Kerl erschossen hat?“ wollte Jörgen wissen.
Sie hatten in aller Deutlichkeit verfolgt, wie Cuchillo den Plünderer auf offener Straße niedergestreckt hatte. Vorher hatten sie gesehen, daß Cuchillo und Gayo mit ihren jeweils drei Soldados vom Hafen aus zur Stadt marschiert waren.
„Das ist Cuchillo“, erklärte Jussuf. „Einer von Gonzalo Bastidas vier Leibwächtern.“ Wie immer war er ausgezeichnet informiert. Keiner kannte die Hafenszene besser als er. In ständig wechselnden Verkleidungen hörte sich Jussuf als Spion im Hafen um und erfuhr stets die neuesten Nachrichten.
„Aha“, sagte Jörgen. „Und Bastida hat was vor. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, daß er sämtliche Plünderer abknallt oder absticht.“
„Ich auch nicht.“
„Vielleicht dient das Manöver nur der Abschreckung.“
„Damit die Kerle mit dem Plündern aufhören?“ fragte Jussuf. „Welchen Sinn soll das haben? Sie setzen ihre Beute ja bei Bastida um. Warum will er plötzlich auf diesen Profit verzichten?“
„Abwarten“, entgegnete Jörgen grimmig. „Wir erfahren es bestimmt noch.“
Arne von Manteuffel erschien ebenfalls auf dem Dach. Isabella Fuentes und er hatten die Schüsse natürlich auch gehört.
„Was ist los?“ fragte Arne. „Geht der Feuerzauber wieder los?“
„Offenbar nicht“, erwiderte Jörgen. „Jedenfalls lassen die Hunde das Gefängnis in Ruhe. Und auf uns scheinen sie es auch nicht abgesehen zu haben.“ Er berichtete, was Jussuf und er beobachtet hatten.
Wenig später konnten die drei Männer verfolgen, wie die Plünderungen in der Stadt allmählich nachließen und schließlich ganz aufhörten. Immer mehr Kerle rannten durch die Gassen auf Bastidas Kneipe am Hafen zu.
„Interessant“, sagte Arne. „Da scheint etwas Größeres im Gange zu sein. Das sieht mir ganz nach einer organisierten Aktion aus. Bastida versammelt die Kerle nicht nur zum Spaß.“
„Vielleicht ist auch de Escobedo bei ihm“, sagte Jussuf.
„Ganz sicher ist er das“, erwiderte Jörgen Bruhn. „Und gemeinsam hecken sie wieder etwas aus, nachdem der Angriff auf das Gefängnis nicht geklappt hat.“
Arne sagte: „Dreimal dürft ihr raten, was sie vorhaben.“
„Die Residenz?“ fragte Jussuf.
„Klar, de Escobedo will doch wieder Gouverneur werden“, sagte Jörgen.
„Da hat er aber was zu knacken“, sagte Jussuf.
„Er wollte, die Knastbrüder aus dem Gefängnis holen, um eine ausreichend große Meute zu haben“, sagte Arne. „Jetzt muß er sich anderweitig umschauen. Ich wette, daß Bastida ihm unter die Arme greift.“
„Ja, an Ideen mangelt es dem Dicken nicht“, meinte Jussuf.
„Gemeinsam sind sie eine Streitmacht“, sagte Arne. „Wir dürfen sie nicht unterschätzen.“
Die drei Männer verfolgten, was weiter in der Stadt geschah. Hier und da waren Rufe und Flüche zu vernehmen. Immer mehr Kerle eilten durch die Gassen auf die Kaschemme des Gonzalo Bastida zu, wo es jetzt von Männern nur so zu wimmeln schien.
Gayo war mit seinen drei Gefolgsleuten in eine der Kirchen von Havanna eingedrungen. Auch hier waren die Plünderer am Werk. Sie hatten den Altar abgeräumt und durchwühlten jetzt die Sakristei. Gayo trat einfach zu ihnen und schoß den Größten von ihnen aus nächster Nähe nieder.
Die anderen – vier Kerle – wirbelten herum. Sie brüllten auf und griffen zu den Waffen, aber die drei Soldados richteten bereits ihre Pistolen auf sie.
„Herhören, ihr Läuse“, sagte Gayo mit grollender Stimme. Er wies auf den Toten. „Das ist nur der Anfang, wenn ihr nicht vernünftig seid.“
„Du bist doch Gayo“, sagte einer der Plünderer.
„Richtig, Kleiner – Gayo, Bastidas eiserne Faust!“
„Was wollt ihr von uns?“ fragte ein anderer. „Ihr könnt die Beute nahen, aber laßt uns am Leben.“
„Wir brauchen Soldados“, sagte Gayo. Dann erklärte er, wie Bastidas Befehle lauteten. „Und jetzt haut ab“, sagte er zum Schluß. „Ich will euch hier nicht mehr sehen. Ihr wißt hoffentlich, was ihr zu tun habt.“
Ja, das wußten sie. Nur einer von ihnen entfernte sich aus der Stadt und schlug sich bis zum nahen Hügelland durch. Die anderen zogen es vor, Bastidas Kaschemme aufzusuchen. Denn welchen Sinn hatte das Dasein eines Galgenvogels, wenn er leer ausging? Noch herrschte Ausnahmezustand in Havanna, noch gab es alles zu gewinnen. Man mußte die Situation nutzen – stürmen, plündern und brandschatzen.
So wurde das Unternehmen der beiden Leibwächter und der sechs Soldados zu einem Erfolg. Bastidas Kneipe drohte bald aus allen Nähten zu platzen. Die Kerle drängten sich dicht an dicht. Jeder wollte bei dem Sturm auf die Residenz dabeisein. Bastida räumte sein geheimes Waffenlager im Keller der Kaschemme bis auf die letzte Pistole und die letzte Kugel leer.
Die Kerle stopften sich die Pistolen in die Gurte, hängten sich die Musketen und Tromblons um. Grinsend nahmen sie die Krüge mit Wein und Bier entgegen, die von den „Señoritas“ verteilt wurden. Bastida ließ sich nicht lumpen. Er gab Lokalrunden aus, und schon jetzt herrschte Triumphstimmung.
Cuchillo und Gayo waren in den einschlägigen Kreisen genauso bekannt wie Rioja und Sancho. Man fürchtete sie. Die Exempel, die Cuchillo und Gayo statuiert hatten, verfehlten nicht ihre Wirkung. Keiner wollte das gleiche Schicksal erleiden wie die erschossenen und erdolchten Plünderer. Plötzlich standen in Havanna alle Häuser gähnend leer, nirgends ertönte mehr Poltern, Klirren und Laichen.
Читать дальше