Rubirosa sah, wie einer der Bürger – er schien sich offenbar verirrt zu haben – plötzlich vor dem Eingang der Gasse auftauchte. Rubirosa drückte den Zeigefinger gegen die Lippen und zischte: „Pst!“
Aber das nutzte herzlich wenig. Der Bürger stieß einen Schrei aus.
„Hier ist einer!“ brüllte er.
Rubirosas Messer flog, wie durch Zauberei gelenkt, durch die Luft und traf den Mann mitten in die Brust. Der Mann fiel auf den Rücken und rührte sich nicht mehr.
Rubirosa trat zu ihm, nahm das Messer wieder an sich, spuckte neben ihm aus und brummte: „Verfluchter Narr.“
Der Schrei des Mannes hatte jedoch andere Bürger angelockt. Sie stürzten heran. Rubirosa packte die Deichsel des Karrens und zerrte ihn durch die Gasse davon. Sie hetzten hinter ihm her und holten rasch auf. Er begann zu laufen und wollte um eine Ecke lenken, aber der Karren kippte um, und die Silberbarren verteilten sich auf dem Katzenkopf-Pflaster.
„Auf ihn!“ brüllte ein Bürger. „Das ist einer der Silberdiebe!“
Mit dicken Knüppeln warfen sie sich auf Rubirosa, doch sie hatten nicht mit seiner Schnelligkeit gerechnet. Ehe sie richtig auf ihn einhauen konnten, hatte er zwei von ihnen bereits mit seinem Messer verletzt. Sie prallten gegen die Mauern der Häuser und krümmten sich vor Schmerzen. Die anderen schienen irritiert zu sein. Es waren sechs oder sieben, wie Rubirosa mit einem Blick feststellte.
Er stürzte sich auf sie, sein Messer tanzte wie ein Irrlicht. Ganz allein warf er sie zurück, und schließlich flüchteten jene, die noch nicht getroffen waren, zur Plaza.
Aber auch Rubirosa hatte einige kräftige Hiebe einstecken müssen. Er stöhnte, bückte sich und versuchte, den Karren wieder aufzurichten. Es war kein leichtes Stück Arbeit. Der Karren war schwerer, als er gedacht hatte.
Völlig unverhofft stießen jetzt jedoch Salimbene und El Moreno zu ihm. Sie halfen ihm, den Karren auf die Räder zu stellen und erneut zu beladen.
„Hier ist der Teufel los“, sagte Salimbene. „Wir sollten das Durcheinander ausnutzen und erst mal mit dem Karren verschwinden.“
Sie hatten einen günstigen Moment genutzt und sich aus der Residenz – wo es ohnehin nicht mehr viel zu holen gab – zurückgezogen. Während der Kampf weiterging, entfernte sich das Trio nun mit dem Karren zum südlichen Ausgang der Stadt.
So entwickelte sich in Potosi eine geradezu chaotische Situation – zumal die Polizeikräfte der Stadt mit der an die hundert Mann starken Garnisonstruppe nach Sucre abmarschiert waren. Die Spitzbuben, Langfinger und Gauner indessen ließen sich noch lange nicht ins Bockshorn jagen – wohl wissend, daß es zur Zeit keine Ordnungsgewalt, keine Büttel und keine Obrigkeit gab.
Sie zeigten den Bürgern die Zähne, und da Gewalt ihr Metier war und sie keinerlei Hemmungen hatten, schlugen sie auch weiterhin brutal zu und bedienten sich ihrer Messer. In dieser Nacht vom 29. auf den 30. Dezember regierte der Mob die Stadt. Es gab fast ein Dutzend Tote und mehr als doppelt so viele Verletzte – darunter auch Lopez Garcia Marquez, der geglaubt hatte, mit seinem Trupp die Gouverneursresidenz „reinigen und leerfegen“ zu können.
Garcia Marquez mußte kapitulieren und mit seinen Männern flüchten. Blutend und hinkend kehrte er in sein Haus zurück. Er war am linken Oberschenkel verletzt. Er hatte sich zum Anführer der Bürger von Potosi erhoben, mußte aber einsehen, daß er sich verkalkuliert hatte. Keiner konnte diesem Pöbel trotzen.
So sollten es Männer wie Romano Casablanca sein, die in ihrer Furcht instinktiv doch den richtigeren Weg gewählt hatten. Sie blieben unversehrt, während die „heldenhaften“ Kämpfer angeschlagen in ihre Häuser flohen und Türen und Fenster verrammelten.
Salimbene, El Moreno, Rubirosa und all die anderen Galgenstricke, die weiterhin durch die Stadt strolchten, brachten ihre Beute in Sicherheit. Selbst Palmiro, der schwerfälligste von allen, hatte etwas erbeutet und zählte in einem sicheren Versteck noch einmal die Silbermünzen, die er gefunden hatte.
Im Gefängnis tobten derweil die Eingeschlossenen – an die dreißig Aufseher der Silbermine, achtundzwanzig Soldaten, die von dem Seewolf und dessen Männern gefangengesetzt worden waren, ein Teniente sowie die Señores vom Stadtrat einschließlich des Bürgermeisters und des Polizeipräfekten.
Alvaro Gomez – so hieß der Teniente – hatte nicht vergessen, wie übel der Gegner ihm mitgespielt hatte. Wütend rüttelte er an den Eisenstäben der Gittertür. Daß es keinen Sinn hatte und zu keinerlei Ergebnis führte, wußte er selbst. Aber er mußte etwas unternehmen – um seinen Zorn abzureagieren.
Keuchend fuhr er herum und lehnte sich mit dem Rücken gegen das Gitter. Er lauschte dem Krawall und sagte: „Hören Sie das, Señores? Da draußen scheinen alle verrückt geworden zu sein.“
„Das Gesindel holt sich das letzte Silber“, sagte der Polizeipräfekt. „Es wird nichts übrigbleiben.“
„Wir müssen etwas unternehmen!“ schrie der Teniente.
„Was?“ brüllte der Bürgermeister ihn an. „Wie kommen wir hier raus?“
„Wir müssen jemanden rufen“, erwiderte Gomez. „Jemanden, der den Schmied holt. Verflucht, warum denkt denn keiner an uns?“
„Zur Hölle mit diesen verdammten Gittern!“ wetterte der Polizeipräfekt, dann sprang er auf und eilte an eins der winzigen Fenster. Nie hätte er sich träumen lassen, daß er die soliden Eisengitter der Zellen und Kerkerräume, die von den fremden Bastarden sogar noch zusätzlich mit Ketten abgesichert worden waren, eines Tages verfluchen würde. Er klammerte sich am Fenstergitter fest, spähte zu den vorbeihuschenden Gestalten und brüllte: „Heda! Hört mich keiner? Bürger – hierher!“
Auch der Bürgermeister und die Señores des Stadtrates beteiligten sich an dem Geschrei. Doch es sollte sich als ebenso sinnlos wie Gomez’ Rütteln an der Tür herausstellen. Keiner der Bürger, der wutentbrannt gegen das Lumpenpack und Gesindel vorging, verfiel auf den Gedanken, die ehrenwerten Señores von ihrem Schicksal zu erlösen, zumal der Teniente, die Soldaten und die Aufseher zweifellos mehr Talent gehabt hätten, die Diebe und Plünderer zu verjagen.
Es lief eben alles fehl. Alles schien verhext zu sein, die Welt hing schief in ihren Angeln. Alvaro Gomez ballte die Hände zu Fäusten und hämmerte damit gegen die Gitter. Er fluchte und stöhnte, aber all das war nutzlos, er vergeudete nur seine Energien.
Was niemals hätte eintreten dürfen, war geschehen: Das blühende, reiche Potosi war dem Pöbel freigegeben. Und er, Gomez, hatte dabei die größte Schande erlitten, als er sich von dem Riesen mit dem entsetzlichen Narbengesicht hatte niederschlagen lassen. Der Hund hatte ihn in den Plaza-Brunnen geworfen und ihn anschließend in das Gefängnis gesteckt – und das alles nur, weil er die kleine Pistole bei ihm gefunden hatte.
Dennoch, er würde sich an diesem Monstrum rächen, furchtbar rächen. Noch wußte er nicht, wie es geschehen würde, aber er spürte, daß es noch eine Chance für ihn gab, spätestens beim Heraufziehen des neuen Tages, wenn das große Plündern vorbei war. Dies war die einzige Hoffnung, an die Alvaro Gomez sich noch klammerte, und er betete zum Himmel, daß sein Wunsch in Erfüllung gehen möge.
Als in Potosi der Morgen graute, vollzog sich die erwartete Wandlung. Die Ratten, die wie toll gehaust hatten, huschten in ihre Löcher zurück. Sie wollten nicht erkannt und entlarvt werden, außerdem hatten sie sich alles geholt, was es zu holen gab.
Salimbene, El Moreno, Rubirosa und auch die anderen hatten sich die Taschen gefüllt. Die Zukunft sah silbern aus, die Vorsehung hatte es gut gemeint mit ihnen.
Alles in allem fanden sie es gar nicht so schlecht, daß diese tolldreisten Fremden in die Stadt eingedrungen waren. Und geschah es den durchlauchten und eingebildeten Señores nicht ganz recht, daß sie im Stadtgefängnis schmorten? So lernten sie das Leben mal von einer anderen, weniger bequemen Seite kennen.
Читать дальше