„He!“ sagte Rubirosa. „Bist du’s, Palmiro?“
„Ja“, brummte Palmiro überrascht. Er war nicht der schnellste Denker und konnte absolut nicht begreifen, wieso ein Bürschchen wie Rubirosa vor ihm hier war.
„Hau bloß wieder ab“, sagte Rubirosa. „Hier gibt’s für dich nichts zu holen.“
„Das mußt du mir gerade sagen“, Palmiro drehte sich halb um und versuchte, den kleinen Mann zu packen. Aber Rubirosa war flink wie ein Wiesel. „Verschwinde du doch“, sagte Palmiro. „Und laß mich in Ruhe, verstanden?“
Rubirosa hatte blitzschnell sein Messer gezückt, sprang auf den großen, wuchtig gebauten Kerl zu und beförderte ihn auf die Tür zu. Bevor Palmiro reagieren konnte, hatte er ihn ins Freie gestoßen und rammte die Tür zu.
Palmiro krümmte sich und griff sich entsetzt mit beiden Händen an den Leib. Brennende Schmerzen durchzuckten ihn. Er hob die eine Hand vor die Augen und sah, daß sie blutig war.
„Santa Madre“, stammelte er. „Er – er hat mich gestochen.“
Gestalten huschten aus dem Dunkel heran und steuerten auf die Casa de la Moneda zu. Ein Kerl mit einem wilden Bartgestrüpp erreichte als erster Palmiro.
„Was ist los mit dir?“ fragte er.
„Er hat mich gestochen“, sagte Palmiro betroffen und erschrocken zugleich.
„Wer?“
„Rubirosa – das Schwein! Sieh mal – hier!“
Der Bärtige untersuchte die Wunde und richtete sich wieder auf.
„Das sitzt nicht sehr tief“, brummte er. „Ist nur ein Kratzer. Hört bald auf zu bluten. Los, komm mit, wir heben den Schuppen aus. Nachher kannst du dich immer noch verbinden.“
Zu fünft rückten sie auf die Tür zu. Sie mußten sie aufbrechen – Rubirosa hatte inzwischen von innen den Riegel vorgeschoben. Die Zeit, die sie für dieses Werk brauchten, genügte Salimbene, El Moreno und Rubirosa, die Silberbarren, die sie hier und dort fanden, nach hinten zu schaffen und auf dem Hof der Casa in einen zweirädrigen Karren zu verfrachten. Sie deckten einen Fetzen Stoff darüber. Dann griffen sie – in Ermangelung von Maultieren – nach der Deichsel und zogen den Karren vom Hof.
Die andere Gruppe von Plünderern hatte unterdessen die Tür aufgebrochen und durchsuchte die Räume. Sie waren gähnend leer. Alle Silberbarren, die hier noch gestapelt gewesen waren und von den Fremden nicht mitgenommen worden waren, befanden sich auf dem Karren des Trios.
Die fünf Kerle fluchten erbittert. Dann forschten sie aber doch weiter und stießen in Schränken auf Münzen, die das Trio nicht gefunden hatte. Lachend und kichernd warfen sie die Münzen, auf einen Tisch und verteilten sie untereinander. Palmiro vergaß vor lauter Entzücken sogar die Messerwunde und die Schmerzen.
Salimbene, El Moreno und Rubirosa zogen mit ihrem Karren durch die Stadt, die wie verlassen vor ihnen lag. Ihr zweites Ziel war die Residenz des Gouverneurs. Immer wieder schauten sie sich nach allen Seiten um. Manchmal erblickten sie Gestalten, die durch die Gassen huschten und darauf bedacht waren, sich nicht zu zeigen.
Die drei grinsten sich zu. Soldaten waren noch nicht zu entdecken, und so gab es immer noch die Möglichkeit, etwas zu erbeuten. Sie hatten die Plaza, an der sich der Palast des Gouverneurs befand, fast erreicht. Plötzlich aber sahen sie zwei Männer, die aus einer Toreinfahrt auf die Straße traten. Daß die nicht zu den Plünderern und Beutelschneidern gehörten, erkannten sie auf Anhieb.
„Verdammt“, zischte El Moreno. „Soldaten!“
„Es sind keine Soldaten“, flüsterte Rubirosa. „Siehst du nicht, daß sie keine Helme tragen?“
„Sie könnten sie abgenommen haben“, sagte Salimbene. „Nein, sie tragen normale Kleidung. Es sind Bürger.“
Er täuschte sich nicht. Die beiden Bürger – es waren die ersten, die sich wieder auf die Straße wagten – hießen Romano Casablanca und Lopez Garcia Marquez. Die Furcht steckte ihnen noch in den Knochen, aber Casablanca gab sich einen innerlichen Ruck, als sie den Karren und die drei Männer erblickten, trat mitten auf die Straße und hob die Hände, um sie zum Anhalten zu bewegen.
Salimbene, El Moreno und Rubirosa stoppten. Dieses Mal hatte nicht nur der Kleine die Hand am Heft des Messers. Auch die beiden anderen griffen nach ihren Waffen. Wenn es erforderlich wurde, würden sie sich den Weg freikämpfen.
Als die Fremden das Kommando in Potosi übernommen hatten, waren die Bürger in ihre Häuser „verfügt“ worden. Dennoch hatten eben diese Bürger verfolgen können, was sich weiter zugetragen hatte. Der Trupp der Fremden – soweit war das durch die Bleiglasfenster der Häuser zu beobachten gewesen – war bei beginnender Dunkelheit mit zwanzig Maultieren nach Westen abgezogen.
Männer wie Casablanca, Garcia Marquez und deren Familien hatten sich einige Gedanken darüber gemacht, welcher Herkunft diese Fremden wohl sein mochten. Sie waren tief braun gebrannt gewesen und hatten zum Teil wilde Bärte gehabt. Einer hatte eine Eisenhakenprothese. Ein anderer sah wie ein wüstes Ungeheuer aus, ein Monstrum mit lauter Narben im Gesicht und einem gewaltigen Rammkinn. Blonde waren auch dabeigewesen.
Wer sie aber waren, wußte niemand. Piraten? Seit wann wagten die sich derart weit ins Landesinnere vor? Nein, das konnte nicht sein. Piraten brachten Schiffe auf und kaperten sie, sie raubten, brandschatzten und plünderten an den Küsten, aber nie im Inneren des Landes. Das wagten sie nicht, und sie fühlten sich hier sozusagen wie Fische auf dem Trockenen. Niemals hätten sie es fertiggebracht, einen tolldreisten Bubenstreich wie diesen durchzuführen.
Sie mußten schon einer ganz besonderen Kategorie angehören, diese Männer. Spanier schienen sie nicht zu sein, obwohl sie die spanische Sprache hervorragend beherrschten. Woher kamen sie dann? Aus einem nördlichen Land der Alten Welt – Frankreich, Holland oder England? Oder gar aus einem anderen Kontinent, aus Cathay beispielsweise?
Niemand erriet es. Es gab weiterhin großes Kopfzerbrechen und Grübeln über diesen Punkt, und die Bürger waren immer noch sehr verstört.
Casablanca und Garcia Marquez hatten sich erboten, gewissermaßen als „Vorhut“ nach dem Rechten zu schauen und die Lage zu erkunden. Was tat sich in Potosi? Man konnte meinen, in eine Geisterstadt geraten zu sein. Totenstille herrschte, der Wind, der vom Altiplano herüberfächelte, schien ein höhnisches Lied zu wispern.
Aber da war der heranpolternde Karren – und da waren die drei Kerle, die zum übelsten Gesindel von Potosi zu zählen schienen.
Casablanca musterte sie und fragte, als sie verharrten: „Wer seid ihr? Was treibt ihr hier?“
Salimbene war geistesgegenwärtig genug, nicht sofort auf die Frage einzugehen.
„Ach, wir kennen uns doch“, sagte er fröhlich grinsend. „Irre ich mich, oder sind wir uns gelegentlich mal im Hurenhaus der roten Dolores begegnet?“
Casablanca hatte die Hände sinken lassen.
„Daran kann ich mich nicht erinnern“, sagte er frostig.
Salimbene ließ die Deichsel los und rieb sich die Hände. „Ich schon. Das waren noch Zeiten, was? Aber das alles ist vorbei. Potosi ist ’ne tote und kaputte Stadt geworden, Señor, hier wird keiner mehr sein Vergnügen haben. Was uns betrifft, mich und meine Kameraden hier, wir hauen ab. Wir haben die Nase voll. Wir haben unsere Siebensachen auf den Karren hier gepackt und ziehen davon. Klar?“
„Sehr gut“, erwiderte Casablanca und gab den Weg wieder frei. „Das kann ich euch auch nur empfehlen.“
Salimbene trat dicht vor ihn hin. „Behalte deine klugen Sprüche für dich, Kerl. Empfehlungen brauchen wir nicht. Verstanden?“
Casablanca wich vor ihm zu Garcia Marquez zurück. Salimbene, El Moreno und Rubirosa zerrten den Karren weiter, ihre Gestalten und die Umrisse des Karrens verschmolzen wieder mit der Dunkelheit.
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