Für die anderen sah das alles wieder ganz anders aus. Außerdem ging es so blitzschnell, daß keiner es genau sah.
Carberry stürzte, und noch während sein Körper zur Seite fiel, packten seine mächtigen Hände zu. Sie verkrallten sich um die Leine, die dem Maultier Diego von einer Art Sattelhorn hing. Das eine Ende hing frei vom Sattel herunter, während das andere Ende mit dem Auge um das Sattelhorn lag wie um einen Poller.
Die paar Yards Leine gaben nach und rauschten unter dem Gewicht des Profos in die Tiefe. Der Ruck war so hart, daß er das Maultier schlagartig von den Beinen und mit in die Tiefe gerissen hätte.
Aber das schlaue Halbeselchen schien wieder mal etwas zu ahnen – oder es hatte den sechsten Sinn wie der alte O’Flynn. Es reagierte jedenfalls ebenso schnell wie der entsetzte Profos.
Kaum verspürte Diego den Ruck am Seil, da neigte er sich etwas nach hinten und stemmte die Beine fest auf den Pfad. Er zitterte unter dem gewaltigen plötzlichen Ruck, stand aber wie eine Eins und unerschütterlich fest. Nur seine Augen quollen ihm vor Anstrengung etwas aus dem Schädel.
Wie gesagt, das alles lief so rasend schnell ab, daß noch niemand reagierte und alle wie gelähmt in die Tiefe starrten.
Diego schnaufte empört und nickte wieder. Dann glotzte er mit großen Augen in die Tiefe, als wollte er sagen: Paß doch besser auf, du Blödmann!
Carberry riß dieser plötzliche harte Ruck fast die Arme aus den Gelenken. Aber ein Spruch des Profos’ lautete: Was man einmal in den Pranken hält, das läßt man nicht mehr los.
An den Spruch brauchte er sich erst gar nicht zu erinnern. Die Angst, in diesen gähnenden Abgrund zu stürzen, verkrampfte ohnehin seinen Körper, und so hielt er das Seil eisern fest.
Er blickte nach unten und schloß entsetzt die Augen. Jeder Blutstropfen war ihm aus dem Gesicht gewichen. Wenn er da hinuntersah, dann wurde ihm übel, denn er glaubte jeden Augenblick, das Seil würde nachgeben.
Er schwang hin und her und hing wie ein riesiger Köder an der Angelleine.
Der Profos hatte gute Nerven, und die brauchte er jetzt auch. Er öffnete die Augen wieder und starrte an die Felswand, an der er hin und herpendelte. Dann riskierte er einen weiteren schnellen Blick in die grauenhafte Tiefe. Seine Fäuste hatten sich so um das Seil verkrampft, daß sie schneeweiß waren.
Er konnte im Augenblick einfach noch nicht klar denken. Ihn bewog nur eins: Hoffentlich läßt mich der lausige Furztrompeter nicht in die Tiefe sausen. Nein, korrigierte er sich, nicht der lausige Furztrompeter – mein liebes gutes Diegoleinchen.
Hoch über ihm stand das liebe Diegoleinchen immer noch wie eine Eins. Aber es zitterte am ganzen Leib, und seine Flanken bedeckten sich mit Schweiß.
Das war der Zeitpunkt, an dem die anderen reagierten. Sie hätten gar nicht früher reagieren können, denn im Grunde genommen, war so gut wie keine Zeit vergangen. Vielleicht hätten die Augenlider ein paarmal gezuckt, wenn die Augen nicht vor Entsetzen so weit aufgerissen gewesen wären.
Stenmark, der sich dicht hinter Carberry und Diego befand, sprang hinzu, griff nach dem Seil und begann daran zu zerren, um den schweren Profos nach oben zu hieven.
Pater David drehte sich um und packte ebenfalls mit an. Unter ihnen pendelte der Profos immer noch wild hin und her.
Pater David hatte erstaunliche Kräfte, und was der Schwede Stenmark einmal packte, das hielt er ebenfalls fest.
„Halt dich gut fest!“ brüllte Sten über den Abgrund.
Klar, das war überflüssig, aber er mußte sich Luft verschaffen, und prompt erfolgte auch die Antwort des Profos’, der sich jetzt gefangen hatte und wieder Hoffnung schöpfte, als sie an dem Seil zerrten.
„Wenn ihr unbedingt darauf besteht – aber gern!“
Er war eben doch unverwüstlich, obgleich es ihn jetzt fast den Hals gekostet hätte.
Sie hievten ihn nach oben. Als er über der Kante erschien, packte der Pater hart zu und rollte ihn auf den Pfad.
Der Profos hatte zwar schon wieder zu trockenen Worten gefunden, aber er rang noch immer nach Luft und war weiß im Gesicht. Und den Tampen hielt er immer noch mit beiden Fäusten fest, als er längst in Sicherheit war. Es dauerte eine ganze Weile, bis sich seine gewaltigen Fäuste entkrampften. Gerade als er die Leine losließ, reagierte auch wieder das Maultier.
Die Anstrengung preßte dem Halbesel die Luft aus dem Körper, aber die ging bei Diego offenbar nach achtern raus. Es donnerte laut, als wollte Diego dem geretteten Profos in seiner Rührung einen deftigen Salut schießen.
Diego war erleichtert – in des Wortes doppelter Bedeutung –, und die Männer waren es auch, als Carberry wieder auf den Beinen stand. Diego trompetete wieder und grinste dann. Aber diesmal war das kein „dämliches Grinsen“ wie der Profos ausdrücklich betonte, sondern ein liebevolles.
„Das Kreuz hat also doch geholfen“, sagte Aloysius trocken. „Vor dem Fluß hat es dich nicht bewahrt, aber vor dem Abgrund. Davor hat dein Trompeter dich bewahrt.“
Carberry war tief gerührt, aber er konnte doch hier dem Eselchen nicht vor allen Kerlen um den Hals fallen. Die hätten sonst vielleicht „dämlich gegrinst“.
„Diego liebt mich eben“, verkündete er strahlend. „Ich wußte ja am Fluß schon, daß er Kräfte wie drei Ochsen hat. Da wollte er mir bloß beweisen, wie stark er ist. Ich konnte also ruhig in den Abgrund fallen, solange er da ist.“
„Na, wenn das nicht unbedingt logisch klingt“, meinte Dan O’Flynn, „dann ist nichts mehr logisch.“
Sie alle lobten das Eselchen und klopften ihrem Profos auf das breite Kreuz. Himmel, das war noch einmal gutgegangen. Keiner vermochte sich vorzustellen, was gewesen wäre, wenn … Aber darüber mochten sie nicht einmal sprechen.
Carberry streckte die noch etwas zitternde Hand aus und kraulte Diego wieder die Stelle unter dem Hals, die den „Schnarch-Effekt“ auslöste. Diego begann auch prompt zu grunzen oder zu schnarchen, oder wie immer man das nennen wollte. Jedenfalls hörte es sich sehr merkwürdig an.
„Er schnarcht so ähnlich wie Matt“, erläuterte der Profos, „wenn der in der Koje liegt und einen gezwitschert hat.“ Dann setzte er treuherzig hinzu: „Wenn ich jetzt abgestürzt wäre, hätte Bruder Aloysius des heiligen Vaters Öl wieder zurückschleppen müssen.“
Der so indirekt animierte Pater seufzte ergeben und kramte nach der Kruke mit dem scharfen Kräuterschnaps.
„Du bist wie eine biblische Plage, Bruder“, sagte er, „immer wieder auftretend und durch nichts auszurotten. Hier nimm, und bedanke dich wenigstens für die wundersame Rettung bei deinem Herrn.“
„Glaube mir, Bruder, das habe ich bereits getan, als ich wieder auf dem Pfad lag. Mir fehlten da zwar noch die Worte, aber die Gedanken waren da.“
„Der Herr hört auch die stummen Gebete, Bruder. Hier, nimm noch einen, du weißt ja, daß einer allein nicht hilft.“
„Und versprich uns, nicht wieder in den Abgrund zu fallen“, sagte Pater David, „sonst reicht der Schnaps nicht mal bis Potosi.“
„Ich werde mich bemühen – ich meine, nicht wieder in den Abgrund zu stürzen. Zwei Schnäpse ist das sowieso nicht wert.“
„Auf dem linken Ohr höre ich überhaupt nichts“, sagte Aloysius.
Sie alle aber beglückwünschten ihren Profos noch, bevor sie den Weg fortsetzten, auch wenn es bei den zwei Schnäpsen blieb.
„Der findet doch immer einen Weg, um dem Pater einen Schnaps aus dem Kreuz zu leiern“, sagte Matt zu Stenmark, „oder ist ein kleines Witzchen darüber nicht angebracht?“
„Ed hat schwarzen Humor, das kannst du ruhig laut sagen.“
Der Profos hatte das gehört und drehte sich um. Sie sahen ihn grinsen, aber so strahlend, als fühle er sich wie neugeboren. Und genau so ging es ihm auch. Er war so erleichtert wie schon lange nicht mehr in seinem Leben.
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