„Sinnlos?“
„Ich – ich meinte hilflos“, murmelte der Profos, der sich sehr anstrengen mußte, um Bruder Aloysius zu verstehen.
„Na, dann geh mal wieder ins Zelt, Bruder Edwin. Das Gewitter kehrt nämlich gleich wieder zurück.“
Völlig perplex starrte Ed den Padre an. Dann sah er der finsteren Wolke nach, aber die zog nicht mehr weiter. Sie war „stehengeblieben“, wie der Profos erstaunt feststellte. Tatsächlich kehrte sie gleich darauf zurück und verteilte sich wieder.
Sehr seltsame Winde scheinen da im Spiel zu sein, überlegte Carberry.
Nach ein paar Minuten ging das Getöse erneut und mit infernalischer Wucht los. Es krachte und donnerte, und die Blitze zuckten jetzt so oft über den Himmel, daß alles taghell erleuchtet wurde.
Ganz in der Nähe schlug es zweimal hintereinander unter ohrenbetäubendem Krachen ein. Die Hammerschläge, die den Blitzen folgten, erschütterten wieder die Felsen.
In den Felsen rollte und tobte es. In pausenloser Reihenfolge schienen Pulverfässer in die Luft zu fliegen.
Erst nach zwei weiteren Stunden verabschiedete sich das Gewitter mit einem Rollen und Donnern das an entfernten Kanonendonner auf See erinnerte.
Als es endlich vorbei war, ging es Jean Ribault erstaunlicherweise viel besser. Seine Kopfschmerzen wären verschwunden, er litt nicht mehr unter Schwindelanfällen und konnte wieder frei atmen.
„Es hat jetzt keinen Zweck mehr, noch aufzubrechen“, sagte Aloysius, „in ein paar Stunden wird es dunkel und kalt. Ich schlage deshalb vor, daß wir heute nacht auf dem Plateau bleiben. Morgen steht uns ohnehin ein beschwerlicher Marsch bevor, denn es geht immer höher hinauf.“
„Ja, wir bleiben hier“, stimmte Hasard zu. „Unnötige Risiken sollten wir nicht eingehen.“
Kurze Zeit darauf erfolgte wieder der überraschende und unangenehme Wechsel von heiß auf kalt. Kaum war die Sonne verschwunden, zog eisige Kälte über das Plateau.
Die Männer beeilten sich, ihre pelzgefütterten Jacken wieder anzuziehen und lobten im stillen ihren Will Thorne. Am Abend tranken sie nochmals ein Schnäpschen auf ihn.
Wenn der alte Segelmacher gewußt hätte, wie oft auf ihn schon getrunken worden war, dann würde er jetzt drei Tage lang total abgefüllt unter der nächsten Bank liegen. So jedenfalls behauptete das der Profos, und der mußte es ja wissen.
Am anderen Morgen – es war der dritte Dezember – setzte sich der Trupp wieder in Marsch. Die Maultiere waren bepackt. Über die Grate und Schroffen der Bergwelt tastete sich das mörderische Sonnenlicht, das ihnen kurz darauf brennend heiß in die Gesichter schien. Trotz der Salbe spannte sich bereits die Haut.
Ohne die fettige Salbe hätten sie jetzt schon die Gesichter von Mumien gehabt, sagte der Pater.
Der Tag verlief ereignislos. Sie kletterten, marschierten, hielten Rast und bewegten sich unermüdlich weiter auf den Tacora-Paß zu, vor dem sie am fünften Dezember standen.
Die Bergwelt hatte sich verändert. In der Ferne waren schneebedeckte Gipfel zu sehen. Die Luft war noch dünner geworden, aber mittlerweile hatten sich die meisten daran gewöhnt. Hin und wieder litt einer unter Kopfschmerzen – normale Anzeichen in den ungewohnten Höhen.
Über viertausend Yards waren sie jetzt hoch, winzige Punkte in einer unwirtlichen Bergwelt, die sich langsam bewegten.
Eine gewaltige Landschaft türmte sich vor ihnen auf. Im dunkelblauen Himmel glühten ostwärts Schneefelder und bläuliche Eiskämme in der grellen Sonne. Die Einsamkeit ringsum war total.
Matt Davies behauptete, man könne die ganze Welt atmen hören. Hier wuchsen noch niedere Sträucher, harte Grasbüschel und hin und wieder ein völlig verkrüppelter und verwitterter Baum. Sehr tief unter ihnen gab es hin und wieder ein Rinnsal oder ein Bächlein, deren Ufer geschützter und nicht den eisigen Winden ausgesetzt waren. Dort wuchs dann etwas spärliches Grün.
Hoch über ihnen, ebenfalls ostwärts, kreiste wieder ein mächtiger Kondor. Einmal sahen sie einen Schwarm hungriger Geier, die nach Raub ausspähten.
Die Luft war glasig und dämpfte die Laute der Schritte oder das Trappeln der Hufe.
Jetzt folgte dem breiteren Geröllweg ein schmaler Bergpfad. Links ragten gigantische Steilfelsen in den Himmel. Rechts ging es senkrecht steil ab in Tiefen, die kaum auszuloten waren. Man mußte schon gute Nerven haben, um an diesem zerklüfteten Abgrund über einen äußerst schmalen Pfad zu marschieren.
Die Männer hatten diese Nerven, sonst hätten sie das Unternehmen Potosi gar nicht erst in Angriff genommen. Sie waren schwindelfrei, wie man das von einem Seemann erwarten durfte, der einen Teil seines Lebens in luftigen Höhen und auf schwankenden Rahen verbrachte.
Dennoch war das hier ein gewaltiger Unterschied, denn ein einziger Fehltritt brachte den sicheren Tod. Wer einmal abrutschte, der konnte sich an den Felswänden nicht mehr halten, der sauste unweigerlich in die furchtbare Tiefe, wo er zerschmettert wurde.
An diesem Tag bewies Diego, daß er auch noch ganz andere Qualitäten hatte, als dämlich in die Welt zu grinsen.
Sie mußten einer hinter dem anderen auf dem schmalen Pfad gehen.
Vor Edwin Carberry ging Pater David. Er schritt ruhig und gelassen aus und konzentrierte sich auf den schmalen Pfad. Dem Profos folgte Stenmark, die Spitze hielt Pater Aloysius. Der Profos ging rechts von seinem Maultier, was ihm schon einmal einen mißbilligenden Blick des Paters eingebracht hatte, als der sich einmal umdrehte.
Diego benahm sich lammfromm, als wüßte er genau, daß dieser Pfad lebensgefährlich wäre. Er schnaubte nur hin und wieder leise oder schlenkerte seinen Kopf, wie er das oft tat.
Carberry war fast andächtig in den Anblick der himmelstürmenden Bergwelt versunken und blickte auf einen weit voraus liegenden Berggrat, der wie pures Gold im Sonnenlicht funkelte.
Als er den Blick abwandte und sich wieder auf den Pfad konzentrierte, verschwamm für einen Augenblick alles vor seinen Augen. Das gleißende Licht hatte ihn doch etwas geblendet.
Dieser kurze Augenblick genügte, um ihn straucheln zu lassen. Sein Oberkörper drehte sich zur Seite, und dann kippte der Profos ab in die unermeßliche Tiefe. Er war so geschockt, daß er nicht einmal mehr einen Schrei ausstoßen konnte.
In diesem Augenblick wurden aus einem Lidschlag Ewigkeiten. Die Zeit schien still zu stehen.
Noch im Abkippen und im Sturz sah er das fassungslose Gesicht von Stenmark, vernahm einen leisen unterdrückten Schrei und sauste weiter in die Tiefe.
Dem eisenharten Profos gefror das Blut in den Adern. Er sah sich fallen, fallen und immer tiefer fallen, und er glaubte auch schon den Einschlag seines schweren Körpers zu spüren.
Für den Profos, aus dessen eigener Sicht es keine Rettung mehr gab, änderten sich alle Bezugs- und Zeitabläufe. In diesem Augenblick des unausbleiblichen Todes befand er sich in einer anderen Welt. Bilder aus ferner Vergangenheit stiegen vor seinen Augen auf. Sie rasten in einem unwahrscheinlichen Tempo vorbei.
Er sah den alten Carberry in seiner Schmiede am Amboß stehen. Dann befand er sich übergangslos auf der „Golden Hind“ unter Francis Drake. Er sah sich als Profos, wie er Doughty durch das Schwert richten mußte, und er sah, wie dessen abgeschlagener Kopf auf die Kuhl rollte. Rasend schnell zogen die Eindrücke vorbei. England, Weltumsegelung, Karibik, Tortuga – alle Stationen seines Lebens schien er noch einmal zu durchlaufen.
Sein letzter Eindruck war ein Tampen, der offenbar von einer Rah herabbaumelte und sich ganz dicht vor ihm befand.
Wenn er diesen Tampen nicht ergriff, das wußte er mit absoluter Sicherheit, dann würde etwas Schreckliches passieren. Der Tampen war groß und gewaltig und schwang hin und her. Er streckte die Hände aus, aber der Tampen schwang wieder zurück. Es war wie ein fürchterlicher Alptraum. Unendlich langsam kehrte der Tampen wieder zurück, und er griff vorsichtig mit beiden Händen danach.
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