„Nein, Sir. Ich nehme auch die Konsequenzen auf mich. Meinetwegen kannst du mich auspeitschen lassen. Oder kielholen, das wäre noch besser.“
„Ich glaube, er hat so eine Art temporären Gedächtnisschwund, oder wie das heißt“, sagte Mac.
„Sein Gedächtnis ist in Ordnung“, sagte Ben. „Luke, erzählt mal genau, wie sich das zugetragen hat. Wie konnte sich Carrero von den Handfesseln befreien? Ihr habt sie doch um Mitternacht überprüft.“
„Es ist mir ein Rätsel“, entgegnete Luke. „Vielleicht sollten wir die Vorpiek noch mal untersuchen.“
Das taten sie etwas später – und fanden den Nagel, der aus dem Spant ragte. So klärte sich das Rätsel auf. Luis Carrero hatte sie alle überrumpelt, nicht nur Luke und Jack.
Die Jolle hatte in der Zwischenzeit das westliche Ufer der Bucht erreicht. Plymmie sprang als erste an Land, blieb stehen, duckte sich und knurrte, daß es ihnen fast eine Gänsehaut über den Rücken jagte.
Die Zwillinge stiegen aus, sie hatten beide je einen Stiefel des Spaniers in der Hand. Wieder schnupperte Plymmie daran, und ihre weißen Zähne blinkten im Mondlicht. Wie ein richtiger Wolf sah sie jetzt aus, furchterregend und wild.
„Sie hat schon immer einen Pik auf den Kerl gehabt“, sagte Shane, der zu ihnen trat. „Am liebsten hätte sie ihn ja gleich zerfetzt, als er an Bord kam.“
Das traf zu. Hasard hatte Carreros Bluthund Philipp nicht an Bord gelassen, als dieser in der Bucht des Indio-Dorfes zu ihnen übergesetzt war. Carrero hatte vor Wut fast geschäumt, sich aber fügen müssen. Dann hatte er Plymmie gesehen – und er hatte dem Seewolf vorgeschlagen, Philipp und Plymmie zu einem Kampf antreten zu lassen. Er hatte eine großartige Wette abschließen wollen, aber als er Plymmies haßfunkelnde Lichter und ihre gefletschten Zähne gesehen hatte, war ihm doch eine Gänsehaut über den Rücken gelaufen.
Plymmie nahm am Ufer sofort die Spur des Spaniers auf. Die Männer und die Jungen – allesamt schwer bewaffnet – folgten ihr und kletterten in die Felsen.
Die beschädigte Jolle der „Estrella de Málaga“ ließen sie am Ufer neben dem Boot der „San Lorenzo“ zurück. Sie würden sie später reparieren. Das lief ihnen nicht weg. Carrero hingegen entfernte sich immer weiter von ihnen, und mit jedem Schritt, den er zurücklegte, sank die Chance, ihn wieder zu erwischen – trotz Plymmie.
Sven Nyberg, der um Mitternacht den Seeausguck an der Küste bezogen hatte, richtete sich gegen zwei Uhr plötzlich kerzengerade auf. Er vernahm deutlich die beiden Musketenschüsse, die in relativ kurzen Zeitabständen abgegeben wurden. Die kamen von der Bucht, daran gab es keinen Zweifel. Auf welchem Schiff waren sie abgefeuert worden? Egal. Tatsache war, daß es Verdruß gab.
Die See war leer, soweit er sie überblicken konnte. Die ganze Zeit über hatte er sie aufmerksam beobachtet. Es war ausgeschlossen, daß sich jemand mit einem Schiff oder auch nur mit einem Boot in die Bucht gepirscht hatte. Er hätte es bemerken müssen.
Folglich mußten diese beiden Schüsse mit Luis Carrero zusammenhängen. Einen anderen Grund konnte Sven sich nicht vorstellen. Hatte Carrero einen Fluchtversuch unternommen? Kaum vorstellbar, aber der Kerl war gerissen und gefährlich wie ein Sack voll Schlangen. Theoretisch konnte er aus der Vorpiek der Karavelle nicht entweichen. Aber vielleicht hatte er es fertiggebracht, den Posten zu überrumpeln.
Sven ließ seinen Blick erneut über die See wandern. Nichts – keine Bewegung. Es konnte also nicht sein, daß Spanier, Küstenhaie oder Eingeborene in die Bucht eingedrungen waren. Außerdem wären dann wahrscheinlich nicht nur zwei Schüsse gefallen.
Diese Schüsse – was hatten sie zu bedeuten? War Carrero auf der Flucht erschossen worden? Oder war er entwischt. Sven entschloß sich, zur Bucht zurückzukehren, um sich Gewißheit zu verschaffen.
Der Weg über die Felsen und durch das Gestrüpp war beschwerlich genug, aber Sven kümmerte sich nicht um die Kratzer, die er sich wegholte, als er sich ein wenig zu hastig durch ein Dornengesträuch zwängte. Es kam ihm jetzt auf Schnelligkeit an. Er mußte wissen, was da los war. Vielleicht konnte er, wenn Carrero tatsächlich auf der Flucht sein sollte, sogar etwas unternehmen, um den Mann zu stoppen.
Gut eine Viertelstunde mochte verstrichen sein, vielleicht auch eine halbe Stunde – da registrierte Sven rechts vor sich eine Bewegung. Sofort duckte er sich.
Das Gelände, das sich vor ihm erstreckte, war ziemlich unübersichtlich – wegen der vielen zerklüfteten und bizarren Gesteinsformationen und auch wegen des Gestrüpps, das allen Regeln der Natur zum Trotz direkt aus dem Fels zu wachsen schien. Dennoch: Sven erkannte im fahlen Mondlicht die Gestalt eines Mannes, die südwärts auf die Küste zuhastete. Der Mann schien Waffen bei sich zu tragen, eine Muskete war in seinen Fäusten zu sehen.
Sven erkannte, daß es sich um Luis Carrero handelte, und die Gewißheit durchzuckte und alarmierte ihn. Also doch – der Hund hatte es geschafft!
Sven legte mit der Muskete auf ihn an und schrie: „Carrero!“
Luis Carrero zuckte zusammen, als habe man mit einer Peitsche auf ihn eingeschlagen. Er wirbelte herum, riß die Muskete hoch und schoß, dann warf er sich in Deckung.
Irgendwie rechnete Sven nicht damit, daß Carrero ihn in der Dunkelheit wirklich treffen würde. Er hatte sich aufgerichtet, um richtig auf den Kerl zielen zu können, und dabei gab er sich zwangsläufig eine Blöße. Er wollte ebenfalls abdrücken, sah den Mündungsblitz von Carreros Waffe und dachte: Schieß genau hinein!
Aber etwas sprang ihn aus dem Dunkel an und grub sich siedendheiß in seine linke Schulter. Die Kugel! dachte er entsetzt – dann wurde er von der Wucht des Anpralls umgestoßen. Er stöhnte auf und biß die Zähne zusammen. Der Schmerz fraß sich von der Schulter durch seinen Oberkörper und schien ihn zu lähmen.
Carrero grinste triumphierend. Der Kerl, der ihn angerufen hatte, war zwischen den Felsen zusammengebrochen. War er tot – oder nur verletzt? Carrero rappelte sich wieder auf. Es spielte keine Rolle. Wichtig war nur, daß ihm der Mann nicht mehr gefährlich werden konnte.
Nichts rührte sich. Gut so, dachte Carrero. Er hatte keine Zeit, sich um den Gegner zu kümmern, sonst hätte er ihn mit einem zweiten Schuß in den Kopf endgültig niedergestreckt. Er durfte sich jetzt nicht aufhalten lassen. Wenn das Engländer-Pack ihm auf den Fersen war, dann hatte es den Schuß natürlich gehört und wußte, in welche Richtung es sich zu wenden hatte.
Carrero lief weiter. Die Muskete lud er nicht nach. Keine Zeit, dachte er, das erledige ich später. Er rannte durch die Dunkelheit und dachte an das, was er unternehmen würde, wenn er Arica erreichte. Boten mußten unverzüglich nach Potosi aufbrechen, damit der Provinzgouverneur Don Ramón de Cubillo gewarnt wurde.
Ein Landtrupp Soldaten sollte sich zu der Felsenbucht in Bewegung setzen, und alle verfügbaren Schiffe mußten auslaufen und Kurs auf den Rio Tacna nehmen. So wurde den Bastarden jede Fluchtmöglichkeit abgeschnitten. In einer kurzen Schlacht würde er, Carrero, sie vernichten.
Sven Nyberg gab sich keinen Illusionen hin. Er hatte zuviel Erfahrung und wußte genau, daß ihn die Kugel aus Carreros Muskete nicht nur gestreift hatte. Sie hatte, wie er vermutete, seine Schulter glatt durchschlagen. Wenn es so war, konnte er noch von Glück reden, daß keiner der Knochen verletzt war oder die Kugel im Fleisch steckte.
Aber die Schmerzen waren höllisch. Unendlich langsam richtete er sich halb wieder auf. Es flirrte vor seinen Augen. Eine Welle von Übelkeit stieg in ihm auf und setzte ihm zu. Er mußte sich übergeben. Ihm war hundeelend zumute. Alles drehte sich um ihn herum, und das zunehmende Schwindelgefühl drohte ihn umzureißen und erneut zu Boden zu werfen.
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