Carrero triumphierte schon jetzt. Er hatte schließlich die Waffen. Wenn es diesen Hunden wirklich einfiel, ihn zu verfolgen, konnte er sie aus dem Hinterhalt niederknallen.
Es würde genügen, ein oder zwei von ihnen abzuservieren, dann zogen die anderen sich zurück. Sie spielten sich auf die Kerle, die vor nichts zurückschreckten, aber wenn es ihnen wirklich an den Kragen ging – so dachte er –, steckten sie sehr schnell zurück und entpuppten sich als Feiglinge.
Diesen einen Punkt überdachte er nicht richtig, und seine Wertung war völlig falsch. Aber in seiner Siegeseuphorie konnte er nicht anders denken. Er arbeitete sich in den Felsen hoch, einem Labyrinth, in dem er schwerlich wiederzufinden war.
An Bord der „Estrella de Málaga“ und der „San Lorenzo“ war inzwischen der Teufel los. Ben Brighton kochte vor Zorn über, trotz seiner sonst so ruhigen und beherrschten Art. Er hatte allen Grund zu toben. Wenn es Luis Carrero gelingen sollte, sich nach Arica durchzuschlagen, dann war Hasards Trupp mit Sicherheit verloren. Die Spanier in Arica würden unverzüglich Potosi alarmieren, durch berittene Boten oder vielleicht auch durch Fuß-Melder, das spielte keine Rolle. Es gab nicht den geringsten Zweifel daran, daß Potosi daraufhin hermetisch abgeriegelt werden würde.
Die zwölf Mann des Trupps, Pater Aloysius mitgerechnet, hatten dann überhaupt keine Chance. Sie ahnten von nichts und liefen in die Falle, die sich für sie öffnete. Man würde sie festnehmen und keine Gnade kennen. Sie konnten noch von Glück sagen, wenn man sie zur Zwangsarbeit in die Minen steckte und in Eisen legte. Aber aller Wahrscheinlichkeit nach würde der Provinzgouverneur sie auf Carreros Drängen hin hängen oder durch ein Peloton erschießen lassen.
Das waren die Aussichten – all die bitteren Aussichten, die sich aus Carreros Flucht ergaben. Ben hatte das Gefühl, das Blut würde ihm in den Adern gefrieren.
Luke Morgan torkelte auf der Kuhl herum. Erst jetzt sahen Al Conroy und die anderen, daß sein Kopf blutüberströmt war.
„O Hölle“, stieß Luke immer wieder hervor. „Wo ist der Kerl? Ich breche ihm sämtliche Knochen, wenn ich ihn erwische!“
Araua eilte zu ihm. „Sei still, Luke. Setz dich erst mal hin“, drängte sie. „Sei vernünftig.“
„Wo ist der Dreckskerl!“
„Zum Ufer entkommen.“
„Wir müssen ihn schnappen, wieder einfangen!“
„Ja, natürlich.“
„Daß dieser Hund mich so ’reingelegt hat! Auf diese Tour!“ Luke stöhnte und hielt sich an einer Kanone fest. „Mann Gottes. Aber das zahle ich ihm heim, verlaß dich drauf.“
Jack Finnegan lag nach wie vor regungslos auf den Planken. Mac Pellew war zur Stelle und kümmerte sich um ihn.
Und Paddy Rogers stammelte immer wieder: „Hölle, was ist denn bloß los? Was ist mit ihm, Mac?“
„Reg dich nicht auf“, brummte Mac. „Er lebt noch.“
„Wie lange noch?“
„Eine Ewigkeit. So schnell stirbt man nicht.“
Das Fatale an der Situation war, daß die Männer der „Estrella“ zur Zeit kein Boot zur Verfügung hatten. Sie konnten also nicht die Verfolgung des Spaniers aufnehmen. Ben ballte die Hände in ohnmächtiger Wut zu Fäusten. Ihm waren die Hände gebunden, er konnte nichts unternehmen. Was nützte es schon, mit den Kanonen zwischen die Felsen zu feuern? Nichts – er vergeudete nur Munition. Und er wußte auch, daß er nicht in Hasards Sinn gehandelt hätte.
Jan Ranse hatte drüben, an Bord der „San Lorenzo“, von Montbars erfahren, was sich zugetragen hatte. Alle Mann waren an Deck versammelt, und der Korse stieß einen saftigen Fluch aus.
„Dreck!“ brüllte er. „Ich dachte, er säuft mit der Jolle ab, verflucht noch mal!“
„Wir müssen sofort an Land!“ schrie Baxter. „Dem Hurensohn nach! Wir können ihn noch erwischen!“
„Abentern!“ rief Jan. „Drei Mann mit mir! Piet, George und Montbars! Los! Wir müssen erst zur ‚Estrella‘ rüber und uns mit Ben abstimmen!“
In Windeseile enterten sie in die Jolle ab, die längsseits lag, und griffen zu den Riemen. Jan stieß das Boot von der Bordwand ab, die Männer begannen wie die Irrsinnigen zu pullen.
Rasch glitt die Jolle zur „Estrella“ hinüber und überbrückte die Distanz in kürzester Zeit. Jan stand breitbeinig vor der achteren Ducht und rief den Männern der Karavelle zu: „Ich stelle euch meine Jolle zur Verfügung, Ben!“
„Ja! Danke! Habt ihr gesehen, an welcher Stelle Carrero zwischen den Felsen verschwunden ist?“
„Montbars hat ihn am Westufer landen sehen!“
„Ich auch!“ schrie Al Conroy. „Aber wo genau?“
„Ich weiß, wo die Stelle ist!“ rief Montbars. „Ich finde sie wieder!“
„Shane!“ stieß Ben hervor. „Du kommst mit! Al, Batuti und Blacky, ihr seid auch mit dabei! Los, Beeilung!“
„Sir“, sagte Hasard junior, der mit seinem Bruder herandrängte. „Wir sollten auch Plymmie mitnehmen. Du weißt doch, was für einen guten Spürsinn sie hat. Sie findet ihn bestimmt – besser als wir.“
„Das ist eine gute Idee“, sagte Ben Brighton sofort. „Los, holt Plymmie!“
„Sie ist schon hier“, meldete Araua. Sie hielt Plymmie an der Leine fest. Die Hündin schien zu spüren, was geschehen war, sie knurrte und zerrte an der Leine.
„Herrgott, warum hat sie nicht schon eher was bemerkt?“ fragte Bob Grey. „Dann wäre diese Schweinerei nicht passiert.“
„Sie hat auch geschlafen“, verteidigte Philip Plymmie. „Und sie kann schließlich nicht alles wittern. Carrero hat sich wohl auch sehr leise bewegt.“
„Das stimmt“, sagte Jack Finnegan, der eben wieder zu sich gekommen war und mit verzerrtem Gesicht den Hinterkopf betastete. „Er hatte bestimmt keine Stiefel an.“
„Dann müssen die noch in der Vorpiek sein“, sagte Ben. „Jeff, sieh mal nach!“
„Die Stiefel sind unten“, sagte Luke. „Ich habe sie selbst gesehen, zur Hölle noch mal!“
Jeff Bowie eilte nach unten. Ben gab unterdessen weitere Anweisungen.
„Von deiner Crew nehmen wir Montbars, Piet Straaten und George Baxter mit“, sagte er zu Jan Ranse, der von der Jolle zu ihm aufblickte. „Damit ist der Trupp komplett.“
„Aye, Sir“, sagten die Männer.
„Und jetzt hört gut zu. Wir müssen verhindern, daß Carrero Arica erreicht. Um jeden Preis.“
„Koste es, was es wolle!“ rief Shane. „Und wenn er doch Arica erreicht, schlagen wir ihn dort in den Gassen tot!“
Mac Pellew stieß plötzlich einen dumpfen Laut aus. Paddy Rogers stöhnte entsetzt auf. Jack Finnegan hatte die Augen verdreht und sank wieder in sich zusammen.
„Ben“, sagte Mac. „Beim Henker, was machen wir jetzt?“
„Tu doch was, Mac“, drängte ihn Paddy.
Ben lief zu ihnen und beugte sich ebenfalls über den Besinnungslosen. Jack war von dem Belegnagel mindestens genauso hart getroffen worden wie Luke, vielleicht hatte es ihn noch ein bißchen unglücklicher erwischt. Aber – konnte ein Mann von einem einzigen Knüppelhieb sterben?
Ben wußte, daß es möglich war. „Rück mal das Licht näher ran“, sagte er rauh zu Mac Pellew.
Mac bewegte die Öllampe, die sie auf die Planken gestellt hatten, näher auf Jack zu. Ben untersuchte vorsichtig die Platzwunde, die Jack am Hinterkopf hatte, und betrachtete das viele Blut, das ihm übers Gesicht gelaufen war. Schlimm sah das aus.
Luke Morgan hatte sich ebenfalls zu ihnen gesellt.
„So ein verdammter Mist“, sagte er immer wieder. „Das ist alles meine Schuld. So ein Mist.“
„Sei still“, sagte Ben, „und hör auf, solchen Quatsch daherzureden.“
Jeff Bowie hatte sich unterdessen in der Vorpiek umgesehen und griff nach den Stiefeln. Er eilte zurück zum Niedergang und kehrte mit polternden Schritten an Oberdeck zurück.
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