Doch sie schrien nicht mehr in panischer Angst, denn sie hofften immer noch darauf, daß gleich alles vergessen sein würde. Die Feuer waren nah, Winschoten und van de Pool waren nunmehr fest überzeugt, die Einfahrt einer schützenden Bucht vor sich zu haben. Sie warteten darauf, in ruhigeres Wasser zu geraten, doch jählings war das Kratzen, Bohren und Schrammen da, das ihre Zuversicht mit einem Schlag wieder zerstörte.
Etwas schien unter dem Kiel der „Eendracht“ zu zerbersten, dann lief das Schiff mit einem donnernden Lauf auf. Die dicken Pfähle bohrten sich tief in den Rumpf, die schnelle Fahrt der Galeone wurde abrupt gestoppt.
Die Männer brüllten auf, stürzten auf die Planken, verloren ihren Halt, überrollten sich, rutschten gegen das Schanzkleid und prallten gegen die Querwand des Vorkastells. Zwei Männer trugen Verletzungen davon, ein dritter ging außenbords und wurde nicht wiedergesehen.
Die „Eendracht“ saß fest. Ihre Sturmsegel schlugen wie verrückt, das Knattern peitschte auf die Gestalten der entnervten Männer nieder. Aber noch begriffen sie nicht, wie ihnen geschah, noch sahen sie nicht die kleinen Boote, die sich von Norderney und Baltrum aus in Bewegung gesetzt hatten.
Nußschalen gleich tanzten die Boote auf den Wogen, es glich einem Wunder, daß sie nicht sofort kenterten. Doch sie bewiesen eine erstaunliche Stabilität in den kochenden Fluten und näherten sich unaufhaltsam der Galeone.
Winschoten hatte den Kolderstock losgelassen, sprang auf die Kuhl hinunter und stürzte ans Schanzkleid. Er hatte gesehen, wie der eine Decksmann außenbords gegangen war, und wollte etwas zu seiner Rettung unternehmen. Aber der Mann war spurlos verschwunden. Winschoten sah plötzlich die von eisernen Spitzen gekrönten Balken, die überall aus den Wellen aufragten – und da durchfuhr ihn wie ein Stich die Erkenntnis, daß sie in eine Falle geraten waren.
Piraten, dachte er entsetzt, Strandwölfe und Küstenhaie! Er fuhr zu van de Pool herum und schrie: „Die Waffen verteilen, van de Pool! Man hat uns hereingelegt! Wir sitzen in einer Falle!“
Doch die Boote der Friesen waren heran und gingen längsseits. Wie ein Spuk tauchten sie auf und entluden ihre Insassen, die katzengewandt an Bord der Galeone enterten.
Winschoten hatte zwei der Angreifer plötzlich direkt vor sich, große Männer mit hellblonden Haaren, die Leinenhemden, Leinenhosen und Stiefel trugen und ihn höhnisch anlachten.
Er zog seine Pistole, spannte den Hahn und drückte auf den einen Kerl ab, doch die Waffe versagte ihren Dienst. Die Ladung war naß geworden. Winschoten schleuderte sie von sich und zückte seinen kurzen Degen, aber jetzt war der eine Mann – Lüder Groot-Jehan – bereits über ihm und drosch mit einem Knüppel auf ihn ein.
Winschoten sank auf die Planken. Lüder riß sein Messer aus dem Gurt, bückte sich und stach zu. Van de Pool wollte seinem Kapitän zu Hilfe eilen, doch er wurde von Onno Osten niedergeworfen. Gode, Jan, Uwe Willem, Karl, Heino, Pit, Friedhelm, Brüne und all die anderen stürmten die Decks und hieben mit Knüppeln, Säbeln und Messern zu. Es knallten auch ein paar Schüsse. Ein heftiger Kampf entbrannte, doch die Gegenwehr war nur kurz, die Friesen hatten das Überraschungsmoment auf ihrer Seite.
Gnadenlos und ohne jeden Kompromiß setzten die Jehans die Holländer außer Gefecht. Sie kannten kein Erbarmen. Als sich an Bord der Galeone nichts mehr regte, gaben Lüder und Karl ihren Kumpanen ein Zeichen, und nun wurden die Besatzungsmitglieder, der Kapitän und der Bootsmann gepackt und ins Meer geworfen.
Lüder und Karl blickten sich an, dann stiegen sie in die Schiffsräume hinunter, die sich allmählich mit Wasser füllten. Sie erreichten die Laderäume, brachen einzelne Kisten und Fässer der Fracht auf und nickten sich grimmig zu. Bier und Pökelfleisch, Sauerkraut und Speckseiten befanden sich darin, aber auch Werkzeuge und ein paar Waffen. Es war eine gemischte Ladung. Winschoten hatte sie auf eigene Rechnung in Hamburg gekauft und wollte sie in seiner Heimat verkaufen.
Lüder und Karl waren mit ihrem Fund zufrieden, es gab nichts, das sie nicht gebrauchen konnten. Sie kosteten von dem Bier und befanden, daß es stark war und würzig schmeckte.
„Gut so!“ rief Lüder seinem mutmaßlichen Halbbruder zu. „Wenn die Ebbe einsetzt, fangen wir mit dem Löschen an!“
„Wie üblich, nicht wahr?“ sagte Karl grinsend. „Und den Kahn wrakken wir natürlich ab, bis nichts mehr von ihm übrigbleibt.“
„Ja. Es wird gerecht geteilt.“
„Das ist doch selbstverständlich.“
Lüder trat dicht vor Karl hin und fragte: „Wer hat Klusmeier umgebracht?“
„Ich nicht“, erwiderte der andere. „Aber wollen wir das nicht später klären? Wir halten uns doch an unsere Vereinbarung, oder?“
„Ja.“ Aber wir rechnen noch ab, dachte Lüder.
Die Nacht ging schnell vorbei, die Ebbe legte das Watt frei, und bald herrschte in den Prielen ein reger Bootsverkehr. Alle Inselbewohner, auch die Frauen und Mädchen, halfen beim Abwracken der „Eendracht“ mit.
Nicht nur die Beute aus den Laderäumen wurde übernommen, auch das Holz war auf, beiden Inseln knapp. Alles wurde unter der strengen Oberaufsicht von Eberhard und Frieda gerecht halbiert und mal nach Norderney, mal nach Baltrum transportiert. Es gab auch jetzt keinen Streit, der Burgfrieden dauerte an.
Jeder fragte sich, welches Schiff wohl als nächstes der Friesenfalle zum Opfer fallen würde. Keiner rechnete damit, daß es noch eine böse Überraschung geben würde. Die Jehans feierten ihren guten Fang mit Bier und Korn und tranken, bis sie fast nicht mehr auf ihren Beinen stehen konnten.
Nathaniel Plymson hatte sich beruhigt, denn die Seewölfe und ihre Kameraden von dem Schwarzen Segler hielten sich an ihre Versprechungen. Alles blieb friedlich, es schien keine Gefahr für die Einrichtung der „Bloody Mary“ zu bestehen. Schon wollte der dicke Wirt erleichtert aufatmen und sich den Schweiß von der Stirn wischen, da trat gegen Mitternacht etwas ein, mit dem selbst er nicht gerechnet hatte.
Ganz unerwartet öffnete sich zu dieser späten Stunde die Kneipentür, und ein Kommando der Stadtwache erschien. Es bestand aus fünf Männern unter der Leitung eines Offiziers, der seiner Uniform nach den Rang eines Lieutenants bekleidete. Groß und wuchtig gebaut war dieser Mann, sein kantiges Gesicht drückte Strenge und Entschlossenheit aus.
„Wer ist denn das?“ fragte Ben Brighton den Seewolf. „Den habe ich hier in Plymouth noch nie gesehen.“
„Er muß neu sein“, entgegnete Hasard. „Vielleicht will er sich ein paar Lorbeeren verdienen. Wie er aussieht, scheint er nicht bereit zu sein, ein Auge zuzudrücken.“
Der Lieutenant war zur Theke gegangen und blickte Plymson kühl aus seinen grauen Augen an.
„Mister Plymson“, sagte er schroff. „Haben Sie das Schlagen der Kirchturmuhr nicht gehört? Brauchen Sie einen Trommler, der Sie gesondert darauf hinweist, wie spät es ist?“
„Ich – nun, ich wollte gerade schließen“, erwiderte der Dicke und warf einen beschwörenden Blick zu seinen Gästen hinüber. Die aber rührten sich von ihren Plätzen nicht fort.
Wiederholt hatte Plymson diesen Lieutenant, der tatsächlich erst seit zwei Wochen zur Stadtgarde von Plymouth gehörte, zu einem Umtrunk eingeladen und vorgehabt, ihn mit einem Fäßchen Wein oder Bier auf die übliche Weise zu bestechen. Aber darauf hatte der Mann sich nicht eingelassen. Er blieb stur und hielt am Reglement fest.
Jetzt umrundete er mit ein paar Schritten die Theke, zog seinen Degen und gebot durch einen Schlag der Klinge auf den Zapfen in einem gerade frisch angestochenen Bierfaß Feierabend. Dies war der Zapfenstreich, der gleichsam Gesetzeskraft hatte, niemand hatte dagegen aufzubegehren.
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