„Was passiert, wenn ich das Zeug nicht esse?“
„Dann kriegst du die Trockenstarre und siehst hinterher aus wie ein Stockfisch an der Leine. Dein Körper wird trocken und starr, und wir werden dich als Trockenmumie über Bord geben.“
Das half, denn vor dem Wissen des Kutschers hatte der Profos immer noch einen Heidenrespekt. Er wollte auch nicht als Trockenmumie an Bord herumliegen. Also schluckte er weiter.
Es dauerte einen weiteren Tag, bis die Halluzinationen und die Übelkeit langsam abklangen. Aber es hatte keine Ausfälle gegeben. Die Arwenacks waren wieder auf der Höhe, aber ihre Körper waren noch ausgelaugt und geschwächt.
„Dieser verdammte Fisch“, sagte der Kutscher. „Hinterher ist man immer schlauer. Ich werde jedenfalls kein Vieh mehr anrühren, das ich nicht genau kenne. Wir hätten uns den Tod holen können.“
„Ja, das hätte der Fall sein können“, gab Hasard zu. „Aber dank deiner Mittelchen haben wir es überstanden. Hat noch jemand Beschwerden irgendwelcher Art?“
Ernstliche Beschwerden hatte zum Glück keiner mehr. Da war nur noch eine gewisse Mattigkeit und Unlust, ein Erschöpfungszustand, der sich allmählich legte.
„Kräftiges Essen würde die Kerle jetzt wieder auf die Beine bringen“, sagte der Kutscher zum Seewolf leise, „aber das haben wir nicht. Wir müssen wohl noch einmal durch die Hölle.“
Der Seewolf nickte. Auch er sorgte sich immer mehr, denn noch hielt sie die entsetzliche Kalme gefangen. Mit jedem Tag wurden die Vorräte und das Wasser weniger. Es stand ihnen noch eine verdammt harte Zeit bevor.
Wieder verging ein Tag langsam und qualvoll. Es sah immer noch nicht so aus, als würde sich in den nächsten Tagen etwas ändern. Im Geiste sahen sie sich schon als Skelette an Bord liegen, wenn das letzte Trinkwasser verbraucht war.
„Wir werden das Schiff morgen schleppen“, sagte Hasard. „Wenn wir Glück haben, bringen wir es an den Wind. Wenn wir hier warten, werden wir nicht mehr sehr alt.“
Was das bedeutete, war jedem klar. Knochenarbeit, Schinderei und Plackerei, bei kräftezehrender Hitze und immer kleiner werdenden Rationen. Das würde auch ihre letzten Kräfte aufzehren. Aber es mußte sein, denn diese Flaute bedeutete ihren sicheren Tod. Lieber wollten sie vor Erschöpfung zugrunde gehen, als tatenlos herumzusitzen. Vielleicht wehte ja einige Meilen weiter ein Lüftchen, das all ihre Probleme lösen würde.
An diesem Tag ruhten sie noch aus und verdünnten das bißchen Wasser, das sich noch in den Fässern befand mit ein wenig Seewasser, um es zu strecken.
Am nächsten Morgen wurden beide Jollen vorgespannt, und damit begann ein höllischer Törn, als die „Santa Barbara“ aus der Kalmenzone geschleppt wurde.
Hasard ließ weiter nach Norden trecken, wo er Wind erhoffte. Er mußte sich dabei auf sein Gespür verlassen. Wenn das versagte, dann waren sie erledigt. Aber sie hatten abgestimmt, wie immer in derartigen Situationen, und jetzt pullten sie die Galeone nordwärts.
Jeweils eine Stunde wurde gepullt, dann lösten sie sich ab.
Der Schweiß rann ihnen in Strömen über die Körper, als sie das schwere Schiff durch die glatte See schleppten. Die „Santa Barbara“ ging mit hängenden Segeln auf Nordkurs. Unendlich langsam bewegte sie sich im Takt der Riemen durch die See.
Den ganzen Tag über wurde gepullt. Immer wenn die Ruderer wechselten, legten sich die anderen erschöpft und ausgelaugt hin und schliefen wie Tote.
Sie hatten keinen Blick mehr für das Wasser. Mit gesenkten Köpfen pullten und pullten sie, bis die Körper schmerzten, bis es vor ihren Augen flimmerte und die Muskeln sich verkrampften.
Der Große Pazifik spielte sein tödliches Spiel mit ihnen. Er ließ sie in der bangen Ungewißheit, ob sie es schaffen würden oder nicht, ob sie sich die Seelen aus dem Leib pullten, oder ob sie endgültig auf der Strecke blieben.
Die Sonne schickte sich an, hinter der Kimm zu verschwinden. Hasard wollte das Zeichen zum Aufhören geben, doch die Männer wehrten ab.
„Noch ein paar Stunden“, sagte Carberry müde. „Wir pullen, bis wir nicht mehr können. Es ist vielleicht auch besser, wenn wir künftig nur noch nachts pullen. Dann entgehen wir der Hitze.“
„Eine gute Idee“, sagte Hasard, der selbst in der Jolle saß und die Riemen durchs Wasser zog.
Noch einmal legten sie sich in die Riemen, bis die Sonne nur noch ein winziger Strich auf der Wasserfläche war.
Da ließ sie ein Schrei zusammenfahren.
Dan O’Flynn richtete sich in der Jolle auf und zeigte voraus.
„Da vorn kräuselt sich das Wasser!“ brüllte er. „Noch eine knappe Meile, dann haben wir eine schwache Brise.“
Müde Augen richteten sich auf jene Stelle.
„Wahrhaftig“, sagte Hasard, „die See bewegt sich. Es hat den Anschein, als würde sich da tatsächlich etwas tun.“
Die verkrampften Gesichter entspannten sich. Schmerzgebeugte Rücken wurden gestreckt. Der Profos spuckte in die riesigen Fäuste.
„Auf“, sagte er heiser, „jetzt wollen wir es wissen. Entweder kriegen wir jetzt Wind, oder uns holt der Teufel. Langt noch mal kräftig ’rein, Männer.“
Die letzten Reserven wurden mobilisiert. Schwielige Fäuste packten zu, und dann brüllten sie ein dreifaches Hurra auf den Seewolf und dessen gutes Gespür.
Das Wasser um sie her kräuselte sich schwach. Über ihre schwitzenden Körper rann sekundenlang ein kühler Schauer. Das Geschenk des Himmels war da, aber es war hart erkämpft worden – bis an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit.
Die Schleppleinen hingen immer mehr durch, während die Sonne ihre letzten kupferfarbenen Strahlen über das Wasser sandte.
„Zurück an Bord!“ rief Hasard. „Und dann Schleppleinen los! Wir haben es geschafft.“
Jetzt war alle Müdigkeit wie weggeblasen. Die Augen leuchteten wieder, und die Hoffnung gab ihnen neuen Mut und Zuversicht.
In aller Eile wurde an Bord gepullt, die Jollen wurden auf gehievt.
Die Brise war deutlich spürbar, frisch und versprach neues Leben. In den Segeln war wieder Bewegung. Äolus blies hinein und straffte sie.
„Weiter auf Nordkurs“, sagte Hasard. „Wir brauchen noch mehr Wind, damit wir segeln können.“
„Und Land brauchen wir noch, damit wir leben können“, murmelte der Kutscher. „Aber das eine hängt vom anderen ab.“
Etwas später glitt die „Santa Barbara“ mit halbgefüllten Segeln in die Nacht. Die Arwenacks standen grinsend und erleichtert an Deck und genossen das Fäßchen Rum, das Hasard zur Feier des Tages spendiert hatte.
Zwei Tage nach der Flaute änderte sich ihr Leben und nahm eine neue Wende.
Gleich am frühen Morgen stellten die Ausgucks fest, daß sich voraus an der Kimm offenbar an einigen Stellen Nebel zu bilden begann. An drei Stellen waren Punkte zu sehen, die wie feine Gespinste wirkten, die auf der See zu schweben schienen.
Dan O’Flynn griff nach dem Kieker, Hasard ebenfalls. Sie hatten nur diese beiden Spektive an Bord.
„Eigenartig“, sagte der Seewolf, „direkt merkwürdig. Die Nebel wachsen buchstäblich zusammen. Hoffentlich steht uns da nicht eine neue Flaute bevor. Ich kann das Wort Windstille schon nicht mehr hören.“
Alle starrten gebannt nach vorn, wo jetzt nur noch ein merkwürdig anzusehendes Nebelgespinst auf dem Wasser schwebte. Mal war der weißliche Schleier kompakt, dann zerfaserte er wieder und streckte sich, als verberge sich dahinter etwas.
„Sollen wir darauf zuhalten?“ fragte Pete Ballie.
Hasard zögerte die Antwort hinaus. Schließlich nickte er widerwillig.
„Mal sehen, was es damit auf sich hat. Kann auch eine Untiefe sein, wo das Wasser wärmer ist. Kurs darauf, Pete. Kurz vorher drehen wir ab, falls es eine Nebelbank ist.“
Das seltsame Gespinst zerfaserte wieder. Eine gute Stunde lang segelten sie darauf zu, die Blicke pausenlos nach vorn gerichtet.
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