Der Zustand war bedrückend, zumal das Gesicht des Kutschers immer besorgter und länger wurde. Er dachte an den Proviant und das Trinkwasser. Beides begann knapp zu werden. Wenn diese Flaute noch längere Zeit anhielt, dann …
Er mochte den Gedanken nicht zu Ende denken, denn er war sehr beunruhigend.
Alle halbe Stunde wechselten die Ausgucks. Doch sie sahen immer und ewig das gleiche Bild. Eine spiegelglatte See und einen zeitlosen Himmel, der sich über ihnen wölbte. In diesem Himmel war die Sonne der einzige Punkt, der sich bewegte. Gnadenlos herabbrennend, zog dieser helle Punkt seine Bahn und bewegte sich auf die Kimm zu.
Die Sonne ging unter. Nicht in einem farbenprächtigen Schauspiel wie sonst, sondern lichtarm und unauffällig. Als sie hinter der Kimm versank, brach die Dunkelheit herein. Am Himmel funkelten Sterne, und etwas später stand der Mond als Sichel über dem Pazifik.
In den Räumen war es heiß, stickig, brühwarm und drückend. Die Luft legte sich beklemmend auf die Lungen, das Atmen fiel schwer.
Daher zogen es alle vor, an Deck zu schlafen.
Am folgenden Morgen begann die Langeweile erneut. Im Osten erschien aus dem Meer ein tastender Lichtstrahl, grellen Fingern gleich, die sich nach dem Himmel streckten. Dann tauchte der obere Rand einer hellen Scheibe auf, und gleich darauf wurde es wieder schwül-warm.
Der Stille Ozean peinigte sie mit einem neuen Tag voller einschläfernder Monotonie.
Da half es auch nicht, daß Old O’Flynn sämtliche Meermänner, Geister und Götter beschwor, und auch die Schutzheiligen ließen nichts von sich hören.
So langsam breitete sich Niedergeschlagenheit aus. Sie waren hilflos und konnten nichts tun als warten und nochmals warten. Doch das ewige Warten war nicht ihre Sache.
Ein paar Arwenacks wanderten ruhelos über die Decks. Andere hockten unter den überall gespannten Sonnensegeln und dösten.
Der Tag verging, ohne daß etwas geschah.
Am darauffolgenden Tag, der genauso wie der andere verlief, ließ Hasard die Rationen für Trinkwasser kürzen.
„Ein Entschluß, der mir schwerfällt“, sagte er. „Aber wir müssen uns von nun an einschränken. Ich weiß, daß ihr die Entscheidung akzeptieren werdet.“
Sie akzeptierten sie, hockten unter den Sonnensegeln und starrten trübsinnig auf die Planken, die unter der Gluthitze einer erbarmungslosen Sonne immer mehr austrockneten.
Die Beschäftigungstherapie bestand darin, daß Rumpf und Planken ständig mit Seewasser übergossen wurden.
Hin und wieder war ein trockenes Knacken im Holz zu hören, oder ein Block knarrte. Das waren – abgesehen von ihren eigenen Stimmen – die einzigen Laute weit und breit.
Die Stille in der unendlichen Weite des Pazifiks war körperlich spürbar, seit die vertrauten Geräusche verschwunden waren. Da war nicht einmal mehr das Gluckern von Wasser zu hören – oder der Wind, wenn er durch die Takelage pfiff. Auch das Raunen der See war verschwunden und der entsetzlichen Stille gewichen.
Die Kalme hielt an, und die See blieb glatt wie ein Spiegel. Sobald sich einmal das Wasser auch nur leicht kräuselte, sprangen sie hoch und starrten sich die Augen aus. Aber das war kein Wind, vielleicht hing es nur mit einer unterseeischen Strömung zusammen.
Als auch der Proviant gekürzt wurde, murrte zwar niemand, dafür waren sie viel zu einsichtig und diszipliniert, aber die Stimmung wurde noch schlechter.
Ständig wechselten die Ausgucks, und so manch hoffnungsvoller Blick richtete sich auf die Kimm. Doch jedesmal wurde eine Enttäuschung daraus.
Sie befanden sich irgendwo in der trostlosen Weite des riesigen Meeres und kannten nicht einmal genau ihren Standort.
Trinkwasser gab es jetzt nur noch zweimal am Tag. Einmal morgens, dann erst wieder am späten Nachmittag. Das Frühstück fiel ebenfalls sehr sparsam aus, aber zum Glück hatten sie bei der wilden Hitze sowieso keinen großen Hunger. Der Durst war schlimmer.
Die Kalme hielt jetzt bereits dreieinhalb Tage an, und immer noch war kein Ende abzusehen. Der Wind, den sie herbeisehnten, der über Leben oder Tod entschied, blieb weiterhin aus.
„Regnen müßte es“, sagte der Kutscher, „wenigstens ein paar Stunden lang. Dann wäre das Trinkwasserproblem für eine Weile gelöst.“
„Und das Hungerproblem?“ fragte Matt Davies, „wie lösen wir das?“
„Verdursten ist schlimmer. Bevor wir verhungern, sind wir längst verdurstet.“
„Sehr beruhigend.“
„Ja, das ist das einzige, was wir mit Sicherheit annehmen können. Aber wie wäre es, wenn wir es mal mit Angeln versuchen würden?“
„Daran habe ich auch schon gedacht“, sagte Ben Brighton. „Aber zum Angeln brauchen wir Köder, und woher nehmen wir die?“
„Salzfleisch vielleicht“, murmelte der Kutscher. „Immerhin können wir es versuchen.“
Nach einer Stunde waren die ersten Angelleinen ausgeworfen und mit Salzfleisch bestückt. Anfangs waren sie noch mit Feuereifer bei der Sache, doch als sich nach zwei, drei Stunden immer noch nichts rührte, verloren einige langsam die Geduld.
Der Kutscher schlug vor, die Leinen zu verlängern. Das wurde getan, aber es brachte keinen Erfolg. Kein einziger Fisch biß an.
„Die haben ja recht, die Außenbordkameraden“, motzte der Profos, „ich an ihrer Stelle würde auch kein ungenießbares und steinhartes Salzfleisch fressen, wenn in der Tiefe bessere Brocken lauern. Die haben doch ihren Tisch gedeckt, die Burschen.“
Sie ließen die Angelleinen auch über Nacht hängen. Am anderen Morgen hingen die Köder unberührt dran. Die Pazifik-Bewohner hatten offenbar einen besseren Geschmack.
Von nun an ging es bergab. Jeden Morgen erwartete sie ein strahlend blauer Himmel, an dem nicht die Andeutung einer Wolke zu sehen war. Das glatte Meer regte sie auf. Wenn sie Durst hatten, dann mußten sie warten, bis ihnen die Zungen zum Hals heraushingen, und wenn sie Hunger hatten, mußten sie ebenfalls warten, bis der Kutscher und Mac ihnen die spärlich bemessenen Rationen zuteilten.
Eines Mittags war plötzlich ein ungewohntes Geräusch in der entsetzlichen Stille zu hören. Wie elektrisiert stürzten die Arwenacks an das Schanzkleid.
Sie sahen einem Schauspiel zu, das sie schon mehr als einmal erlebt hatten.
Tief unter ihnen glitzerte das Wasser wie Silber. Riesige Schwärme kleinerer Fische flitzten aufgeregt dahin. Sie veränderten blitzschnell ihre Richtung, gingen tiefer oder stießen näher zur Oberfläche hoch.
Ganze silbrig blinkende Fischschwärme flüchteten in wilder Panik. Einige gerieten der Oberfläche dabei so nahe, daß man sie mit der Hand hätte fangen können.
„Räuber sind hinter ihnen her“, sagte Mac Pellew. Er zuckte zusammen, als ein paar silbrige Leiber blitzschnell aus dem Wasser sprangen. Sie sprangen mehrere Fuß hoch und fielen dann wieder zurück.
„Los, in die Jolle“, sagte Carberry eifrig, „vielleicht fangen wir ein paar der Burschen.“
Die Jolle hing schon seit zwei Tagen außenbords. Sie benutzten sie zum Zeitvertreib, pullten ein wenig um das Schiff oder schwammen in dem kühlenden Wasser.
Die Aussicht, den mageren Speisezettel aufzufrischen und gebackenen Fisch zu essen, beflügelte sie. Sie waren ganz versessen darauf, und ihnen lief schon das Wasser im Mund zusammen.
Ferris, Ed, Smoky und Bill enterten in die Jolle und pullten zu jener Stelle, wo immer wieder mal ein paar Fische aus dem Wasser sprangen. Sie starrten ihnen mit hungrigen Augen nach.
Unter ihnen spielte sich ein Drama in der See ab. Unsichtbare Räuber fuhren wie verrückt in den Schwarm. Sie sahen es daran, wenn winzige Fetzen an die Oberfläche trieben. Die Räuber selbst waren jedoch nicht zu entdecken. Ferris Tucker tippte auf Barracudas, gierige und räuberische Pfeilhechte, die mit ihren scharfen Zähnen Brocken aus den Fischen rissen, dann umkehrten und sie verschluckten.
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