Ribault und die sieben anderen Männer kehrten aber doch schon kurze Zeit darauf zurück und gaben durch Handzeichen zu verstehen, daß alles in Ordnung sei. Der Eingeborene und die beiden Mädchen waren wieder bei ihnen. Roger Lutz beobachtete sie durch den Kieker und stieß einen bedauernden Laut aus. Seine Miene war entsagungsvoll und tieftraurig. Die anderen lachten.
Ribault legte beide Hände an den Mund und rief: „Die Siedler sollen sich bereithalten! Wir setzen mit der Jolle über und holen sie an Land!“
An Bord der „Le Vengeur III.“ begannen die Männer auf und ab zu laufen, eine hastige Betriebsamkeit entwickelte sich. Die wenigen Habseligkeiten waren rasch zusammengepackt. Reihum wurden Hände geschüttelt, man klopfte sich auf die Schultern. Die Siedler nahmen Abschied von der Crew der „Le Vengeur III.“ – und von Siri-Tong, die sogar das Achterdeck verließ, um den Männern eine gute Zukunft zu wünschen.
„Madam“, sagte ein älterer Engländer mit graumeliertem Haar. „Ich will es aufrichtig im Namen aller meiner Kameraden sagen: Es tut uns leid, daß wir Sie nie wiedersehen werden.“
„Vielleicht treffen wir uns doch wieder“, sagte sie. „Diese Insel ist für uns nicht außerhalb unserer Reichweite. Es ist möglich, daß wir sie schon bald wieder anlaufen, was immer uns in diese Gegend führt.“
„Hurra!“ schrie ein junger Franzose. „Ein dreifaches Hurra für die Rote Korsarin – und für Jean Ribault und die Mannschaft der ‚Le Vengeur‘!“
„Hurra!“ brüllten die Siedler.
Die Jolle hatte sich in Bewegung gesetzt, Doc Delon, Marty und Hinkle pullten zum Schiff. Ribault und die anderen warteten solange an Land und schienen sich besonders mit den jungen Schönen ausgiebig zu unterhalten.
Doc Delon mußte unwillkürlich grinsen, als er das Geschrei hörte und ein paar Hüte und Mützen hochfliegen sah, die wieder aufgefangen wurden. Dann aber nahm seine Miene wieder den Ausdruck tiefen Bedauerns an. Als die Jolle längsseits schor, war er der erste, der die Sprossen der Jakobsleiter ergriff und aufenterte. Er kletterte über das Schanzkleid und trat zu den Männern von El Triunfo, die sich zum Verlassen des Schiffes versammelt hatten.
„Ich wäre gern noch eine Weile auf der ‚Vengeur‘ geblieben“, sagte Doc Delon. „Ich schätze Sie und Ihre Männer, Madam.“ Sein Blick ruhte die ganze Zeit über mit offener Bewunderung auf Siri-Tongs Gesicht.
„Vergessen Sie nicht, daß die ‚Vengeur‘ Jean Ribault gehört“, sagte sie und lächelte.
„Ich habe mich bereits bei ihm bedankt für alles, was Sie für uns getan haben.“
„Wenn ich mich nicht irre, haben der gute Jean und Carlos Rivero Ihnen auch etwas zu verdanken.“
„Das war doch nicht der Rede wert.“
„Ho, ho“, sagte Carlos Rivero. „Nur keine falsche Bescheidenheit, Doc! Wir vergessen dich nicht, und wir kommen wieder, um dich hier zu besuchen, verlaß dich drauf! Dann bringen wir auch den Seewolf mit, der dich bestimmt auch kennenlernen will!“
„Der Seewolf Philip Hasard Killigrew?“ Der Arzt nickte. „Darauf lege ich großen Wert, denn über diesen erstaunlichen Mann habe ich schon viel gehört. Also, ich nehme das als ein Versprechen hin.“
„Sehr gut“, sagte Marty, der inzwischen ebenfalls aufgeentert war. „Das ist wirklich bestens. In der Zwischenzeit richten wir es uns auf der Insel gemütlich ein.“
Hinkle war im Boot geblieben und wartete auf die ersten Siedler, die sich jetzt anschickten, die „Le Vengeur III.“ zu verlassen. Roger Lutz schickte ihnen einen so sehnsüchtigen Blick nach und spähte derart verlangend zu den Eingeborenenmädchen, daß Siri-Tong es sich nicht verkneifen konnte zu sagen: „Warum gehst du nicht mit an Land, Monsieur Lutz? Du kannst dann gleich bei deinem Kapitän abmustern.“
„Ich? Wieso?“
„Ich habe so den Eindruck, daß die Mädchen es dir angetan haben.“
Roger Lutz verlieh sich einen Ruck und hob stolz den Kopf. „Deswegen würde ich aber noch lange nicht von diesem Schiff abmustern, Madam. In diesem Punkt täuschen Sie sich wohl in mir.“
Sie lachte. „Das wollte ich nur wissen. Aber was hat es nun mit diesen Eingeborenen auf sich?“
„Sie sind friedfertig, wir haben uns davon überzeugen können“, erwiderte Doc Delon. „Ihr Dorf liegt nicht weit entfernt auf einer Lichtung im Urwald. Die Hütten sind an einen Hang gebaut worden, und es gibt ein paar Höhlen, in die diese Menschen sich zurückziehen, wenn Gefahr droht. Auf diese Weise haben sie bereits drei, vier Überfälle überstanden. Ihre Hütten wurden von Spaniern und Freibeutern niedergebrannt. Sie haben sie wieder aufgebaut. Nichts scheint den Mut dieser Insulaner zerstören zu können.“
„Und ihre innere Ausgeglichenheit“, sagte die Rote Korsarin. „Aber warum haben sie sich nicht auch vor uns versteckt? Und woher wissen Sie, was Sie eben erzählt haben, Doc?“
„Wir haben mit dem Häuptling gesprochen“, entgegnete der Arzt. „Der junge Mann, der die Mädchen begleitet, ist sein Sohn. Man hat uns vor Anker gehen sehen, aber der Häuptling war sicher, daß wir friedliche Absichten haben. Er könne es den Gesichtern der Menschen ablesen, was sie im Schilde führen, sagt er.“
„Sie verstehen seine Sprache?“
„Er spricht ein bißchen Englisch und Französisch. Wo er es gelernt hat, ist mir ein Rätsel. Auch weiß ich nicht, woher die Eingeborenen stammen. Sie können unmöglich auf Cajones geboren sein.“
„Sie sind ein ganz anderer Menschenschlag“, bestätigte Siri-Tong. „Nun, eines Tages werden vielleicht auch wir erfahren, welches Geheimnis dahintersteckt. Wichtig ist im Moment nur, daß die Eingeborenen Sie und Ihre Kameraden bei sich aufnehmen.“
„Ich habe ihnen versprochen, ihre Kranken zu pflegen“, sagte der Arzt. „Ich habe eine Frau gesehen, die ein schlimmes Auge hat, und zwei Kinder, die ununterbrochen husten. Ich glaube, ich kann ihnen helfen.“
„Viel Erfolg, Doc“, sagte Siri-Tong. Dann verabschiedete sie sich von ihm und drückte auch Marty die Hand, der mit dem linken Auge sie ansah und mit dem rechten zu Carlos Rivero hinüberschielte.
Die Abschiedsszene hatte fast etwas Rührendes an sich. In der kurzen Zeit ihrer Anwesenheit hatten die Siedler von El Triunfo sich an Bord der „Le Vengeur III.“ gut eingelebt. Es fiel ihnen nicht leicht, das Schiff zu verlassen, aber die Aussicht auf ein Wiedersehen mit den Korsaren stimmte sie doch zuversichtlich.
So wurden die Siedler in vier Fahrten an Land gebracht. Jean Ribault, Barba und die drei anderen Männer der „Le Vengeur III.“ verabschiedeten sich ebenfalls, dann stiegen sie in ihre Jolle und kehrten zum Schiff zurück.
„Viel Erfolg beim Kampf gegen die Black Queen!“ rief Doc Delon ihnen noch nach.
„Danke!“ schrie Jean Ribault. „Drückt uns die Daumen!“
„Viel Glück!“ brüllte Hinkle.
„Einen schönen Gruß an Willem Tomdijk, wenn ihr ihn mal wiederseht!“ rief Marty.
Dann ging alles relativ schnell. Die. Jolle legte an der Bordwand der „Le Vengeur III.“ an, die Männer enterten auf. Die Jolle wurde hochgehievt, eingeholt und auf dem Hauptdeck festgezurrt. Der Anker wurde gelichtet, die Segel gesetzt, und die Galeone glitt aus der Bucht, um die Insel an ihrer Leeseite – also im Westen – zu runden.
Noch lange winkten die Männer von El Triunfo dem entschwindenden Schiff nach, dann wandten sie sich ab und schritten zu den Eingeborenen, die geduldig auf sie warteten.
Hoch am Wind segelte die „Le Vengeur III.“, der Wind aus Osten blies frisch und trieb sie rasch voran. Kurs Nordosten lag an. Jean Ribault und Siri-Tong wollten zuerst die Cayman-Inseln anlaufen und vorsichtshalber dort nach dem Rechten sehen. Wichtig war, daß sich kein Verbündeter der Black Queen womöglich auf Gran Cayman oder den Nachbarinseln einnistete. Jede Gefahr dieser Art mußte unterbunden, jedes Überraschungsmoment ausgeschlossen werden.
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