Das dritte Schiff im Verband war die „Wappen von Kolberg“, jene stattliche Galeone, die in ihrer Bauweise mächtiger und behäbiger wirkte als die Schiffe von der Ramsgate-Werft. Doch dieser Eindruck täuschte. Arne von Manteuffel und seine Crew beherrschten das ehemalige polnische Flaggschiff mit absoluter Sicherheit, und sie bewiesen, daß es mit seinen Segeleigenschaften den anderen praktisch in nichts nachstand.
Den Abschluß bildeten die „Le Vengeur III.“ und die „Tortuga“, jene beiden Schwesterschiffe, die als letzte Neubauten auf der alten Werft in Plymouth entstanden waren, bevor Hesekiel Ramsgate seine Sachen gepackt und sich den Seewölfen beim Aufbruch in die Karibik angeschlossen hatte.
Bei günstigen nördlichen Winden segelten die fünf Schiffe unter Vollzeug und nahmen sehr bald Fahrt auf. Die sich bauschenden Segel schienen im rotgoldenen Sonnenlicht zu leuchten, die Heckseen bildeten breite schäumende Linien in den tief blauen und kristallklaren Fluten.
„Ich habe ein seltsames Gefühl“, sagte Araua, die Tochter der Schlangenpriesterin. „Es ist das Gefühl von Einsamkeit und Schutzlosigkeit.“
Karl von Hutten wandte den Blick von der Flotte des Seewolfs und sah das Mädchen an.
„Du täuschst dich. Es ist nur der Abschied, der solche Gefühle hervorruft. Wir sind nicht schutzlos, Araua. Denke an unsere Geschütze und an die vielen Kämpfer, die wir hier noch zur Verfügung haben.“
„Aber wir haben kein Schiff mehr zu unserer Verteidigung.“
„Der Seewolf weiß, was er tut. Unsere Feinde befinden sich auf Tortuga. Er muß schneller sein als sie, muß ihnen zuvorkommen und sie dort besiegen, wo sie sich zu einem neuen Angriff auf die Schlangen-Insel sammeln könnten. Nein, Araua, uns droht hier keine unmittelbare Gefahr.“
„Das ist es nicht allein“, sagte das Mädchen leise, „ich ahne blutiges Geschehen in der nahen Zukunft. Werden wir diese fünf Schiffe so wiedersehen, wie sie uns jetzt verlassen?“
Karl von Hutten lächelte und strich ihr über das Haar.
„Ja“, sagte er rauh, „wir werden an nichts anderes denken. Unsere Gedanken, mit denen wir die Freunde begleiten, dürfen nichts Unheilvolles haben.“
Araua hob den Kopf und erwiderte seinen Blick.
„Du hast recht. Meine Mutter würde nicht anders sprechen als du. Verzeih meine Angst. Sie ist falsch. Ich tue den Männern dort auf den Schiffen unrecht damit.“
Noch lange hielten sie auf der Beobachtungsplattform aus, bis die Segel nur noch als helle Punkte über der südwestlichen Kimm zu sehen waren.
Schon während der Seewolf und seine Gefährten mit ihren Schiffen ankerauf gegangen waren, hatte sich Arkana in das Felsengewölbe des Schlangengottes begeben.
Stumm und regungslos kniete die Schlangenpriesterin vor dem Standbild, umgeben von den züngelnden Lichtern der heiligen Flammen, die den magischen Kreis bildeten. Der Reif mit den beiden Schlangenköpfen ließ kleine Lichtreflexe über Arkanas Stirn glitzern. Es hatte den Anschein, als wanden sich die stilisierten Leiber in unablässiger Bewegung im Haar der Schlangenpriesterin.
Auch Arkanas ganzer Körper schien von dieser ständigen rhythmischen Bewegung erfaßt zu sein – wie in einem mystischen Tanz. Doch die Ursache war das Zucken der Flammen, die ihr Spiel von Licht und Schatten auf Arkanas brauner Haut trieben.
Die Schlangenpriesterin hielt die Augen geschlossen und den Kopf gesenkt. Sie konzentrierte die Kraft ihrer Gedanken darauf, alle Empfindungen auszuschließen. Nichts, was von außen an Wahrnehmungen auf sie eindrang, hatte jetzt noch eine Bedeutung. Ihr Bewußtsein war bereit, sich zu verlagern und den eingegrenzten Bereich des eigenen Ichs zu verlassen. Tief in ihrem Innern spürte sie, wie ihre Seele sich dafür öffnete, fremde Strömungen aufzunehmen und mit jenem Wesen in Zwiesprache zu treten, das sich nur ihr und Araua mitteilte.
Sie hob beide Arme und streckte sie dem Schlangengott entgegen. Der Moment war nahe. Sie spürte es deutlich, obwohl sie sich fern von Zeit und Raum befand. Ihr Bewußtseinszustand war wie das körperlose Schweben in einer unendlichen Leere.
„Sprich zu mir, Schlangengott, du, der du zahllose Generationen meines Volkes schützend auf seinem Weg begleitet hast. Sprich zu mir in dieser Stunde, in der meinem Volk und seinen Freunden vielleicht schlimmstes Unheil bevorsteht.“
Keines von diesen Worten war über Arkanas Lippen gedrungen. Die Worte schwangen in den Wellen ihres Bewußtseins mit und erreichten auf diese Weise die Gottheit, die gleichfalls nur auf einer fremden Bewußtseinsebene existierte und anderen Menschen unerreichbar bleiben würde.
„Öffne deine Augen, meine Hohepriesterin“, ließ sich der Schlangengott vernehmen.
Arkana gehorchte. Sie hob die Lider, und ihr Blick erfaßte die Statue, wanderte an ihr hoch und blieb an den grünen Augen des Schlangengottes haften, die jetzt in einem eigentümlichen Leuchten erglühten.
„Ich danke dir, daß du mich anhören willst“, sagte die Schlangenpriesterin, „ich danke dir heute besonders für die Güte, die du an meinem Volk und seinen Freunden sooft hast walten lassen.“
„Deine Worte sind ungewöhnlich. Du weißt, daß du mir nicht danken mußt. Ich spüre deine Empfindungen, die dahinterstehen.“ Das Leuchten in den Augen des Schlangengottes verminderte sich und nahm einen matten Hauch an, der ihn mitleidsvoll aussehen ließ.
„Ich weiß“, erwiderte er in der Bewußtseinsströmung, in der sie beide in Verbindung standen. „Aber es gibt nichts, womit ich deine Angst mildern kann. Die bösen Ahnungen, die dich erfüllen, sind sehr wohl berechtigt. Tödliche Gefahren warten auf den Seewolf und die anderen Männer – und auf Siri-Tong, die Rote Korsarin, die an mich glaubt.“
„Kannst du denn nichts tun?“ Arkanas geistige Stimme war beinahe flehentlich.
„Das, was mir möglich ist, werde ich gewiß tun. Ich werde dem Seewolf einen Weg weisen, der am besten geeignet sein wird, sein Vorhaben zu verwirklichen. Aber dann werden er und seine Gefährten auf sich allein gestellt sein. Denn die Black Queen verkörpert das Böse, das Böse, das sich außerhalb meines Machtbereichs befindet.“
„Du gibst mir wenig Hoffnung, Schlangengott.“
„Dann verstehst du mich falsch. Sei zuversichtlich. Eins ist sicher: Die Entscheidung des Seewolfs war richtig. Der Schlangen-Insel droht keine Gefahr, solange die Schiffe abwesend sind. Und was die Aufgabe in Tortuga betrifft: Hast du dich nicht immer auf die unerschütterliche Kraft des Seewolfs und seiner Männer verlassen können?“
„Das habe ich. Aber …“
„Es darf kein Aber geben, Schlangenpriesterin. Ich wiederhole: Sei zuversichtlich. In deinen Gedanken mußt du den Männern und der Roten Korsarin beistehen, du mußt sie beflügeln und ihnen Mut zusprechen. Düstere Gedanken sind nicht hilfreich. Nicht für dich selbst und nicht für andere.“
„Ich werde deinen Rat beherzigen“, sagte Arkana.
„Dann ist es gut. Du wirst mich nun allein lassen. Sicher werde ich dir schon bald mehr sagen können, aber für dieses Mal muß es genug sein. Achte darauf, daß das heilige Feuer weiterbrennt, bis es von selbst erlischt.“
Arkana senkte den Kopf und schloß die Augen. Als sie sie wieder öffnete, waren die Augen der Statue erloschen. Die heiligen Flammen bewegten sich ruhiger, als hätten sie einen Teil ihres Lebens verloren.
Die Schlangenpriesterin erhob sich langsam und wie in Trance. Aber in ihren Adern spürte sie das Pulsieren einer neuen Kraft. Es war wie nach einem langen und erholsamen Schlaf. Ihr Körper war wie neugeboren und damit auch ihr Geist.
Verflogen waren die bösen Ahnungen. Als sie das Gewölbe verließ, wußte sie es: Der Schlangengott hatte ihre Gedanken in die rechte Bahn gelenkt.
Читать дальше