Sie hatten den Parkplatz erreicht und Paule kam strahlend auf sie zu, um Lükka zu begrüßen. Lükka stellte Roman vor und wechselte ein paar Worte mit dem freundlichen Riesen. Seine Einladung, eben mitzukommen und sich seine Bilder anzuschauen – »Zweitausend inzwischen!«, verkündete er stolz – lehnte sie allerdings nachdrücklich ab und beeilte sich, das Auto aufzuschließen.
»Eigentlich wollte ich auch nicht deine Meinung über Thedinghausens Bilder hören«, nahm Roman den Faden wieder auf, während Lükka den Wagen über die schmale Allee steuerte. »Ich meinte eher seine Anspielung auf Bungeroth. Meinst du, da könnte was dran sein?«
So richtig glaubte er nicht daran, dass der verhinderte Erlebnisgastronom das Zollhaus in Brand gesteckt haben könnte, auch wenn der dafür bekannt war, mit harten Bandagen zu kämpfen. Es war ihm zwar nicht nachzuweisen, aber dass der Verein immer wieder Ärger bekam, weil Schankkonzessionen für die großen Parties fehlten, auf die Einnahmen keine Vergnügungssteuer abgeführt wurde oder Zweckmäßigkeit bisweilen wichtiger genommen wurde als der Denkmalschutz, schrieb Roman auf Bungeroths Rechnung. Es war mit großer Wahrscheinlichkeit auch dessen Verdienst, dass eine wahre Goldgrube von Altstadtcafé dichtmachen musste, weil im Rathaus nach mehr als zwanzig Jahren ganz plötzlich jemand bemerkt hatte, dass für die Größe des Lokals nicht genügend Parkplätze ausgewiesen waren. Bungeroth war ein neidisches Aas, aber blöd war er nicht. Wenn der Unternehmer das Zollhaus kaufen und zu einem Multifunktionslokal mit zugkräftigen Shows, teurem Essen und exklusiven Boutiquen umbauen wollte, hatte er jetzt eindeutig sein Ziel verfehlt.
Offensichtlich waren Lükkas Gedanken in dieselbe Richtung gegangen. »Ist ja nicht mehr viel übrig, was er kaufen könnte. Aber wer weiß, vielleicht wollte er mit der Aktion die Zollhausleute nur so mürbe machen, dass sie die Lust verlieren. Und dann hat er es beim Zündeln etwas übertrieben und ärgert sich jetzt die Pest an den Hals.«
Roman nickte nachdenklich. Möglich war das und besser als nichts allemal.
Donnerstag
»Bis auf deinen kleinen Fahrraddieb haben wir jetzt alle zu packen gekriegt, die an dem Morgen beim Zollhaus waren. Rausgekommen ist dabei allerdings nichts. Sieh zu, dass du den Knaben möglichst bald ausfragst, warum er es so eilig hatte. Vielleicht bringt uns das ja weiter.«
Roman war dankbar für Lükkas Gelassenheit. Sein Besuch im Supermarkt war am Morgen ein glatter Reinfall gewesen. Chalid hatte frei, am Spezialitätenstand war ein jüngerer Mann, aus dem außer Chalids Nachnamen nichts rauszubekommen war, und Supermarktchef Eigenbrood war auch nicht im Haus.
Lükka machte Roman keine Vorwürfe, weil er den Jungen gestern nicht gleich in der Flaschenannahme festgenagelt hatte, statt sich um sein eigenes Abendbrot zu kümmern, aber das war auch gar nicht nötig. Niemand war besser darin, Roman Sturm seine Fehler unter die Nase zu reiben als er selbst, allerhöchstens der Leiter des Fachkommissariats, aber Hauptkommissar Stahnke hatte zum Glück Urlaub.
Verbissen hackte Roman den Namen »Chalid Bihal« in alle zugänglichen Datenbanken, aber der Computer kannte weder den Jungen noch irgendeinen Angehörigen. Roman besuchte sogar Dirk Baukloh, der zwischen seinen Regalen voller konfiszierter Bongs und Pfeifen hockte wie in einem Secondhandladen für Kiffer. Dixis Aftershave war nicht völlig verdunstet, hatte es aber schwer, gegen den Schweißgeruch anzustinken. Roman war nicht sicher, ob der aus Bauklohs Poren dünstete oder von den Platten Cannabisharz stammte, die Dixi gerade abwog und deren Gewicht er in eine Liste eintrug.
Ohne etwas über Chalid erfahren zu haben, stand Sturm kurz darauf wieder in dem Büro, das er sich mit Lükka teilte, und atmete erst mal tief durch, obwohl die Kollegin seine Abwesenheit offenbar dazu genutzt hatte, eine halbe Schachtel Zigaretten durch die Bronchien zu jagen.
»Baukloh hat auch keinen Kunden, der Bihal heißt oder auf den die Beschreibung passt«, berichtete er. »Wenn ich bei dem war, bin ich heilfroh, beim 1. FK zu sein und nicht beim Rauschgift. Der Gestank da ist einfach unschlagbar.«
»Du warst zu lange nicht bei einer Obduktion. Danach denkst du bestimmt anders.«
»Oh nein, bitte nicht.« Roman starrte Lükka an, die sich angelegentlich einen Fussel vom Ärmel zupfte. Wie schaffte sie es bloß, bei dieser Hitze in einer langärmeligen schwarzen Bluse herumzulaufen und trotzdem so frischgeduscht zu wirken? »Sag nicht, dass ich nach Oldenburg muss.«
Sturm hatte schon bei vielen Leichenöffnungen die Staatsanwaltschaft vertreten müssen, aber daran gewöhnt hatte er sich immer noch nicht. Es gab Kollegen, die Bilder von Verbrechensopfern, die auf dem kalten Granittisch ihre letzten Geheimnisse preisgaben, nach Feierabend abschalten konnten wie eine DVD, aber Roman hatte jedes Mal in den Nächten danach seine ganz private Kinovorführung. Horrorfilme aus der untersten Schublade unterm Ladentisch und keinen Pfennig dazubezahlt. »Eigentlich will ich heute …«, er überlegte fieberhaft, wie er diesmal den Knochenjob an Lükka abdrücken könnte. Ach ja! »… noch zum Landkreis. Vielleicht hat die Ausländerbehörde irgendetwas über die Kinder in den Akten.« Das konnte klappen, denn Lükka Tammling stand mit Wilma Poppen vom Ausländeramt schon seit der Schulzeit auf Kriegsfuß. Angeblich, weil für die große Blonde der Name schon früh Programm geworden war. Gute Chancen also, dass Lükka den Termin in der Gerichtsmedizin vorziehen würde.
»Außerdem ist mein Wagen in der Werkstatt«, zog Roman noch einen Trumpf aus dem Ärmel.
»Da habe ich gute Neuigkeiten. Oder schlechte – je nachdem. Deine Karre ist fertig und so fahrbereit, wie sie nur sein kann. Wenn sie das überhaupt jemals war. Ich übernehme Wilma Poppen, du den netten Onkel Doktor, so haben wir heute Nachmittag beide unseren Spaß.«
Ein energisches Klopfen an der Bürotür vereitelte Romans Versuch, eine neue Verhandlungsrunde zu starten. Wer so aussah wie der Mann, der nach Lükkas »Ja, bitte« im Raum erschien, suchte das Fachkommissariat für Todesermittlung in der Regel nicht persönlich auf, sondern wartete auf einen Hausbesuch. Das freundliche Lächeln, das die fensterlederartige, bleiche Haut spannte, vertiefte die Schatten um die tiefliegenden Augen, die hinter der getönten Brille fiebrig leuchteten. Volker Noormann, so stellte der Spuk sich mit überraschend kräftiger Stimme vor, pflegte allerdings ein höchst lebendiges Hobby: Er fotografierte. Seinen Motiven stellte er regelmäßig nach, genau nach Fahrplan, und an ausgefahrenen Gleisen. Gegenüber einem Tierfotografen war er als passionierter Eisenbahnknipser eindeutig im Vorteil, denn anders als Waschbären oder Blaukehlchen ließen die Züge der deutschen Bahn höchstens mal eine Stunde auf sich warten und waren deutlich spurtreuer. Vergleichsweise leichte Beute also. Für Roman reichte das allein nicht aus, um die Faszination zu erklären, die einen Menschen dazu brachte, seine Tage an staubigen Schotterbetten zu verbringen. Aber einen Vorteil lernte er schätzen, als Noormann den obersten Reißverschluss seiner großen, schwarzen Kameratasche aufzog und einen Packen Fotos auf den Tisch legte. Züge hielten sich gewohnheitsmäßig auf den Schienen zwischen zwei Bahnhöfen auf und traten an solchen Orten mehr oder weniger so zuverlässig auf wie die Tapire an der Tränke. Deshalb war auch Noormann gerne am Bahnhof und hatte im ersten Büchsenlicht des frühen Dienstagmorgens auf der Lauer gelegen. Direkt gegenüber vom Zollhaus. Am Dienstagmorgen war aber der Regionalexpress nach Münster nicht planmäßig um 5.02 Uhr gekommen, so dass Noormann die erhoffte Begegnung des RE 14103 mit der Regionalbahn RB 34530 entgangen war.
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