Jochen Schimmang - Altes Zollhaus, Staatsgrenze West

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"Wer an der Grenze steht, kommt schnell mal einen Schritt vom Wege ab und gerät auf die andere Seite des Schlagbaums."
Der geschasste Bonner Politikberater Gregor Korff hat sich abgefunden mit den Umwälzungen in seinem Leben, und er profitiert sogar davon: Eine Episode aus seiner Vergangenheit hat ihm in Form eines Bestsellerromans ein recht beachtliches Vermögen eingebracht, und so ist er heute, in den 2010er Jahren, Besitzer eines ehemaligen Zollhauses an der niederländischen Grenze, wo er zurück- gezogen lebt. Lange Zeit ist ein pensionierter Zöllner sein einziger Kontakt, dann aber kommt frischer Wind in sein Leben: Er lernt einen enttarnten ›Landesverräter‹ kennen; zwei serbische Kinder besuchen ihn auf der Durchreise; übers Kino tritt er in Kontakt mit zwei jungen Leuten aus der nahen niederrheinischen Kleinstadt, und ein Freund aus Gregors aktiven Tagen stattet ihm einen Besuch ab. Der «alte Spinner vom Zollhaus» wird nach und nach wieder vergesellschaet. Gregor Korff ist definitiv nicht auf der Höhe der Zeit, und eben dieser Abstand schärft seinen Blick.
Altes Zollhaus, Staatsgrenze West ist ein kluger, subtil komischer Roman über die Freundscha, das Alter und das Verschwimmen von Zeiten und Grenzen.

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Jochen Schimmang

Altes Zollhaus, Staatsgrenze West

Roman

Edition Nautilus GmbH Schützenstraße 49 a D 22761 Hamburg - фото 1 Edition Nautilus GmbH Schützenstraße 49 a D 22761 Hamburg - фото 2

Edition Nautilus GmbH

Schützenstraße 49 a · D - 22761 Hamburg

www.edition-nautilus.de

Alle Rechte vorbehalten

© Edition Nautilus GmbH 2016

Originalveröffentlichung

Erstausgabe März 2017

Umschlaggestaltung: Maja Bechert, Hamburg

www.majabechert.de

Druck und Bindung: Beltz Bad Langensalza

1. Auflage

ISBN 978-3-96054-035-9

All dies muss als etwas betrachtet werden, was von einer Romanfigur gesagt wird . Roland Barthes

Inhalt

1 Granderath

2 Nomade

3 Bleu de Mer

4 Blitze über der Biskaya

5 Früher war es so, dann war es so

6 Ein Schwarm Krähen

7 Brücke, Garten

8 Vom Reichtum

9 Glückliche Reise, rasende Fahrt

10 Vom Landesverrat

11 Boulevard de Bonne Nouvelle

12 Hubschrauber am Himmel

13 Besuch im weißen Haus

14 Die Zürcher Umarmung

15 Das Buch (der Bücher)

16 Mein Sohn

17 Farbenlehre Westeuropa

18 Moffenerbe

19 Der Flug der Roselmeise

20 Giuseppe und Maria

21 Verräter wie wir

22 Zeichenstunde

23 Von der Freundschaft, von der Angst

24 Verteidigung der Ärzte

25 Kino Kino

26 Thomann und Harnisch

27 Seltsame Heimfahrt

28 Ein Grenzzwischenfall

29 Die fröhlichen Baumeister

30 Unterhaltungen deutscher Eingeborener (I)

31 Mikroromane

32 Requiem

33 Unterhaltungen deutscher Eingeborener (II)

34 Hirte, Engel, Ende

35 Einspruch aus der Schreibschule

36 Die Widmung

1Granderath

Jetzt habe ich es geschafft; jetzt bin ich der alte Spinner vom Zollhaus .

Das hörte ich heute in meinem Rücken, als ich im Ort einkaufte. Da hatte jemand versehentlich etwas zu laut gesprochen, denn die Bemerkung war nicht an mich adressiert, nicht aggressiv, keineswegs als Beleidigung gedacht, die mich hinterrücks erreichen sollte. Eher schwang Respekt darin mit.

Den Roman Das Sonja-Komplott , der mir letztendlich diese komfortable Position ermöglicht hat, habe ich nicht selber geschrieben, auch wenn auf allen Ausgaben ziemlich groß – zu groß für meinen Geschmack – mein Name prangte und es auch im Abspann des Dreizehnteilers, den das Fernsehen daraus später gemacht hat, immer hieß: Nach Motiven des Romans »Das Sonja-Komplott« von Gregor Korff . Ich bin nie in meinem Leben Romancier gewesen. Der Verfasser war ein gewisser Z., dessen Klarnamen ich auch heute nicht enthüllen möchte, obwohl er tot ist. Z. war Bonner Korrespondent einer norddeutschen Regionalzeitung gewesen und hatte die Ostverschiebung in den neunziger Jahren nicht mehr mitgemacht, sondern war in Bonn geblieben. Einige Jahre, nachdem Sonjas wahre Rolle aufgeflogen war und ich gehen musste, erzählte ich ihm die Geschichte in allen Einzelheiten, und Z. machte innerhalb eines halben Jahres einen Achthundertseitenklotz daraus, einen Politthriller mit sämtlichen Geheimdiensten dieser Welt, mit kaltblütigen Morden, Intrigen, Ministerstürzen und allen Arten von Verrat, nicht zu vergessen der Liebesverrat. Sein Held, ein Mann namens Norbert Sethe, durchlebt die absurdesten Abenteuer, und es ist ein Wunder, dass er sie, eingekeilt zwischen BND, Mossad, CIA, MI6 und anderen Monstern, alle überlebt. Aber das muss er, weil Z. ihn zum Ich-Erzähler seiner Geschichten macht. Lauter Geschichten, die ich mir nicht hätte ausdenken können, denn ich habe keine Phantasie , wie Proust zu seiner Haushälterin sagte. Ich habe an dem Manuskript dann lediglich stilistische Korrekturen vorgenommen und die größten Peinlichkeiten oder Unwahrscheinlichkeiten gestrichen. Auf den Gedanken, selbst ein Buch zu schreiben, wäre ich nie gekommen, denn ich verabscheue den Trieb, der das Papier ununterbrochen mit seinen Produkten bedeckt .

Als er einen Verlag gefunden hatte, in Zürich, war es Z.s Idee, dass ich meinen Namen als Verfasser hergeben sollte, weil er sich davon mehr Erfolg für das Buch versprach. Vielleicht hatte ihn auch der Verlag dazu gedrängt. Z. schien die Verkaufschancen des Romans nicht allzu hoch einzuschätzen, weil er dann doch keine Beteiligung, sondern einen gut dotierten Buyout-Vertrag wollte. Wie viel er bekommen hat, weiß ich nicht, aber auf jeden Fall war sein Pauschalhonorar eher bescheiden, gemessen an dem, was sein Machwerk ihm an Autorenhonoraren eingebracht hätte und nun mir zugefallen ist. Immerhin hat er von dem schnellen Geld dann noch etwas gehabt, bevor er ein Jahr nach Erscheinen des Buches während eines Unwetters im Siebengebirge von einem Blitz erschlagen wurde.

Der Erfolg des Buches ist bekannt. Er hat niemanden mehr überrascht als mich, der ich angeblich sein Autor bin. Das erste Jahr nach dem Erscheinen war etwas anstrengend, weil ich ständig auf Buchpräsentationen anwesend sein und sogar vorlesen musste. Dabei habe ich mein Buch nie ganz gelesen, weil es mir einfach zu dick war. Das fiel jedoch nie auf, weil die Fragen auf diesen Veranstaltungen in der Regel weniger literarischer Art waren, sondern sich auf meine ehemalige Tätigkeit als Ministerberater bezogen. Und wenigstens den Sonja-Strang der Handlung kannte ich ja gut, weil ich ihn in den Grundzügen selbst erlebt und erlitten hatte. Ein paar Jahre nach meinem fünfzigsten Geburtstag aber konnte ich, wie es sich nur wirklich bedeutende Autoren erlauben können, erklären, dass ich keine Veranstaltungen und Lesungen mehr mache , und mich als Privatier niederlassen.

Aber ich sollte zunächst von dem Traum von heute Morgen erzählen. Meine Erinnerungen daran nach dem Aufwachen waren außergewöhnlich scharf – und hell. Hell, während meine sonstigen Traumerinnerungen eher trübgrau, bestenfalls milchig sind und sich auf wenige Bruchstücke beschränken, wie bei den meisten Menschen. Als ich meine Analyse machte, damals in Köln, versorgte ich meinen Analytiker nur spärlich mit Träumen, und um überhaupt brauchbares Material zu liefern, musste ich sie meistens kräftig mit Bildern und Verbindungsgliedern anreichern, die ich vermutlich gar nicht geträumt hatte. Er war ein sympathischer Mann, und ich wollte ihn nicht enttäuschen.

Heute Morgen nach dem Erwachen dagegen, es war kurz vor halb neun, waren alle Bilder sehr präsent, und ich fühlte mich merkwürdig erfrischt. Geträumt hatte ich anscheinend von Europa und Deutschland in den Grenzen von 1988. An den Grenzen, auch und gerade an der innerdeutschen, herrschte jedoch nicht jene dumpfe, depressive Stimmung der Bedrohung und der Angst, die ich damals noch gut kennengelernt habe. Die Übergänge – oder der Übergang, ich war in meinem Traum eindeutig am vertrauten Punkt Helmstedt/Marienborn und reiste als Transitler nach Westberlin – sahen noch ebenso aus wie früher, aber die Atmosphäre war viel entspannter. Es schien so etwas wie eine allgemeine Erleichterung auf allen Seiten zu herrschen. Wie damals gab es den Blick in den Pass, dann den Blick auf mich, den Blick in den Pass, dann auf mich, in den Pass, dann auf mich, dreimal, viermal oder öfter, bevor der Pass zurückgereicht und ich zur Weiterfahrt aufgefordert wurde. Aber das Ganze schien diesmal eher ein Spiel zu sein, und das Herz klopfte einem nicht im Halse wie früher. An Selbstschussanlagen mochte man hier nicht mehr denken.

Auch beim Transit selbst hatte sich einiges geändert. Die Straßen waren in einem wesentlich besseren Zustand, und an den Tankstellen gab es kein Minol, sondern westliche Markenbenzine. Der Rasthof Magdeburger Börde dagegen sah so aus wie damals, und es gab dort auch wieder einen Intershop. Auch die Volkspolizei, deren Wagen hier und da am Rand der Transitstrecke oder halb verborgen auf kleinen Parkplätzen standen, trug die bekannten Uniformen von damals. Es fehlte auch nicht an der bewussten Brücke die Aufschrift Plaste und Elaste aus Schkopau , stark verblasst. Die sozialistischen Parolen von früher sah man allerdings jetzt nicht mehr an der Strecke. Dafür las ich kurz vor dem Hermsdorfer Kreuz Wir sind das Volk! , aber dies war die einzige ernsthafte Drohung, der ich auf meiner Fahrt begegnete.

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