Im Hotelzimmer im Fernsehen die Sportschau sehen und mich, weil in Deutschland niemand weiß, wo ich gerade bin, fühlen wie Rumpelstilzchen.
An einem Julitag aus sicherer Entfernung und mit gezügeltem Begehren ein Geschöpf am Strand liegen sehen, fünfzehn bis siebzehn Jahre, allein auf einer Decke, ab und an zuckend im Halbschlaf.
Den Möwen zusehen und zuhören, unter deren strengem Blick und unter deren mahnenden Rufen ich mich bis heute fühle wie damals auf der Couch meines Analytikers.
Früh und tief schlafen, wie nur an der See. Alle Jahreszeiten hier gewesen und auch einen Sturm erlebt, an einem Herbstmorgen im Wintergarten eines Restaurants, dort, unter einzelnen, ruhigen Gästen, saß ich hinter den großen, nassen Scheiben mit meinen Croissants und schaute ins näherkommende Meer .
Nicht einen einzigen Augenblick jedoch habe ich jemals daran gedacht, mich in Ostende niederzulassen. Ich wusste, dass ich nur als Fremder hier zu Hause sein würde. Das Versteck Ostende schützte mich nur so lange, wie ich mich nicht ansiedelte. Aber in meinem ersten Nomadenjahr, in jenem November, als ich hier ankam, nutzte ich die Gelegenheit, um mich in einem köstlichen Halbzuhause niederzulassen, in diesem Appartement im sechsten Stock eines hässlichen Hochhauses an der Promenade, in dieser Stadt, die niemand schön nennen wird, der bei Sinnen ist.
Was ist ein Halbzuhause? Ein Ort, an dem man sich wohlfühlt, und den man, wenn die Zeit gekommen ist, ohne Schmerz verlassen kann.
Schon früh, noch als Kind, hatte ich das Talent zum Alleinsein. Ich lebte zwar mit meinen Eltern unter einem Dach, aber meist in einer gewissen Entfernung von ihnen, oder sie von mir – das habe ich nie herausgefunden. Mein Bruder, sechs Jahre älter als ich, lebte in einer anderen Entfernung. Als ich sechs war, kam er wegen einer Erkrankung für zwei Jahre in ein Sanatorium sehr weit weg, im Schwarzwald. Meine Eltern besuchten ihn dort regelmäßig, einmal kam ich mit. Ich erinnere mich an zwei wichtige Erlebnisse während dieses Besuches. Hier gab es den ersten Grenzübertritt meines Lebens, denn wir fuhren einmal für ein paar Stunden bei Waldshut in die Schweiz hinein. Ich war erleichtert, als wir es schafften, ohne Probleme wieder zurückzukommen. Ich hatte mir das schwerer vorgestellt. Noch wichtiger war eine Begegnung in einer Kirche in irgendeinem der Örtchen der Gegend, vielleicht St. Blasien. An diesen Namen erinnere ich mich. Es kann aber auch gut in St. Georgen gewesen sein. Über einem Altar sah ich als lebensgroße Skulptur Gott thronen. Gott trug einen blauen Mantel mit einem goldenen Revers und goldenen Bündchen, und natürlich hatte er einen Bart. Das war das erste Bild von Gott, das ich sah, und meine Gottesvorstellung hat dieses Bild bis heute nicht überschritten.
Mein Talent zum Alleinsein entwickelte ich während der Schulzeit weiter und konnte darauf zurückgreifen, wann immer es nötig war. Dabei war ich bei der Mehrzahl meiner Mitschüler beliebt, hatte von Anfang an Zugang zu gleich mehreren Cliquen, die ich gleichsam besuchte und aus denen ich mich zurückzog, wenn ich nicht mehr konnte. Wenn ich keine Lust mehr hatte.
Das geschah oft. Wenn Gruppen zu groß wurden und zu lange zusammensaßen, langweilte ich mich sehr schnell, und so ist es bis heute geblieben. Zwei oder drei Menschen – mich selbst mit eingerechnet –, sind die ideale Größe fürs Zusammensein. Der Vierte ist schon einer zu viel, und je länger das Zusammensein dauert, desto tiefer sinkt das Niveau, das Gespräch versandet in Gemeinplätzen, blöden Sprüchen, Insiderjokes. Ums Niveau geht es mir aber nicht, ich muss mich nicht ständig auf dem Hochplateau bewegen. Es geht mir um die Langeweile. Viele Leute auf einem Haufen – Familienfeiern, Geburtstage, Jubiläen bezeugen das zur Genüge – sind über kurz oder lang fade und deshalb anstrengend. Zwei oder drei, wenn sie passen, können lange miteinander sein, ohne dass es öde wird. Sogar miteinander schweigen können sie, ohne sich zu langweilen. Vier können das nicht mehr.
Ohne dieses Talent hätte ich meine Nomadenjahre nicht durchstehen können. Ich war unterwegs, an niemanden gebunden, an keinen Ort und keine Aufgabe. Ich hatte nur zu leben, und das ist gefährlich.
Man entwickelt Techniken. Man achtet darauf, dass man jeden Tag wenigstens ein paar Alltagsdialoge führt. Manchmal ergibt sich ein längeres Gespräch. Einmal, in Biarritz an einem Sommerabend, als ich draußen vor einem kleinen Restaurant saß und aufs Essen wartete, kam eines dieser plötzlichen Biskaya-Unwetter auf. Es begann mit dem großen Wind, der auch unter die Sonnenschirme griff und sie wegzufegen drohte, dann zuckten die ersten grellen, fast gelben Blitze über dem Atlantik. Da hatten alle schon ihre Getränke gepackt und waren nach innen gestürmt, während das Personal draußen schnell die letzten Sonnenschirme zusammenklappte und auf den Boden legte. Drinnen wurden die Tische noch enger aneinandergerückt als ohnehin schon üblich, und mit ihnen auch die Gäste. Man genoss das Gewitter, den für diese Region eher kleinen Sturm, das Feuerwerk der Blitze; die Stimmung war ausgelassen. Man fühlte sich erfrischt und belebt nach dem langen, heißen, dösigen Sommertag. Ich unterhielt mich ein wenig mit dem Paar neben mir, Ende vierzig, Pariser. Sie kamen jedes Jahr hierher, und ich? Ich war zum ersten Mal hier. Gefiel es mir? Es gefiel mir sehr, wie ich überhaupt gern in ihrem schönen Land war. Das machte sie stolz auf eine beinahe schon dümmliche Art. Dann hatte sich das Unwetter ausgetobt, ein paar Nachwehen noch; eine Stunde später war das Lokal leer. Ich hatte mich an die Theke verzogen und trank noch einen Wein, und als auch ich bezahlen wollte, fragte die Frau hinter der Theke, als sei sie tief enttäuscht:
»Déjà?«
Hätte da etwas passieren können? Manchmal, in anderen Orten, ist etwas passiert, darüber hier weiter kein Wort. Die Zeiten von Gregor Korff, Frauenliebling an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer, waren jedoch lange vorbei.
Wenn das Alleinsein zu riesig, wenn es zur lebensgefährlichen Göttin Einsamkeit wurde, handelte ich schnell; auch das gehörte zu meinen erworbenen Techniken. Ich hatte meine Fluchtpunkte. Es war einer dieser Fluchtpunkte, von denen ich zurückkehrte, als ich das Zollhaus in Granderath entdeckte. Ich hatte einen Ort gefunden, und wenn ich später auch Martin Tauberts Prophezeiung hörte, dieser Ort werde eines Tages verschwunden sein, bin ich doch davon überzeugt, dass er mich noch überleben wird.
5Früher war es so, dann war es so
Dass ich die bewussten Sätze über den alten Spinner hörte, als ich im Ort einkaufte , klingt ein wenig so, als wohnte ich weit draußen, allein wie ein Anachoret, wie der heilige Benedikt einen solchen Mönch nennt, vorbereitet für den Einzelkampf in der Wüste . Nichts ist falscher. Die letzten Häuser von Granderath vor der Grenze beginnen gerade dreißig Meter ortseinwärts von meiner Station entfernt, und wenn ich aus der Tür trete und mich nach links wende und nach einigen Schritten in Holland bin, findet sich auch dort naturgemäß eine aufgegebene Grenzstation, die allerdings nicht bewohnt ist und langsam verfällt. Schade, wie gern hätte ich mich einmal wöchentlich mit meinem Kollegen von der anderen Seite getroffen!
Danach schließen sich bald die Häuser des Dörfchens Tingeloo an, viel kleiner als Granderath, eigentlich nur drei ehemalige Höfe, bewohnt von offenbar wohlhabenden Leuten, prächtig herausgeputzt und strahlend weiß, dazu am Dorfrand ein Bordell. Dorthin fahren die deutschen Bewohner der Grenzregion, so, wie die Leute aus Tingeloo nach Straelen oder auch nur nach Granderath fahren, um einzukaufen, wenn sie nicht im Lande bleiben und es nach Venlo geht.
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