»Früher«, sagt Martin Taubert, »war das hier vermintes Gelände. Nicht wörtlich natürlich, aber weil es der kleinste Übergang war, war der Schmuggel besonders heftig. Wir hatten nämlich immer zu wenig Leute.«
Martin schaut inzwischen ein- oder zweimal die Woche bei mir rein. Was seine Gesellschaft so angenehm macht, ist die Tatsache, dass er keine Meinungen mehr hat, und wenn er welche hat, dann äußert er sie nicht. Er schimpft nicht und hat keine Liste von Vorschlägen, was alles anders gemacht werden müsste. Von ihm habe ich irgendwann stillschweigend gelernt, dass man keineswegs auf der Höhe der Zeit sein muss und dass das nicht einmal einen besseren Überblick verschafft. Martin erzählt, und seine Erzählung lässt sich etwa so beschreiben: Früher war es so, danach war es so, und schließlich gab es die Grenzstation nicht mehr.
»Vor dem Ruhestand war ich dann noch drei Jahre in Goch. Das war mein Exil.«
Martin ist nicht in Granderath aufgewachsen, sondern in Moers, immerhin noch ein ganzes Stückchen von der Grenze entfernt. Niederrhein, aber noch nicht der richtige: Ruhrgebiet eben. Die Abstufungen sind hier manchmal sehr fein.
»Aber ich war zweiundzwanzig, als ich beim Zoll anfing, und vorher bin ich nur Schüler und in den beiden letzten Kriegsjahren Soldat gewesen.«
»Erzähl mir nichts vom Krieg«, beschwor ich ihn.
»Tue ich nicht. Diese Grenze war mein Leben, Gregor. Deshalb bin ich auch hier geblieben, als ich pensioniert wurde.«
Es hat immerhin ein ganzes Jahr gedauert, bis Martin anfing, mich zu duzen. Vermutlich hat ihn vorher der völlig unangemessene Respekt vor jemandem, der eine Karriere in Bonn und danach auch noch an der Uni hinter sich hatte, daran gehindert. Erst nach und nach hat er erfahren, was für ein schräger Vogel ich eigentlich gewesen war, und erst dann ging er zum du über.
Von seinen Eltern und von den Schuljahren erzählt er nichts. Sein Leben hat erst an der Grenze angefangen, in den frühen Fünfzigern; zum Beispiel, als an einem Oktobermorgen 1952 gleich drei gepanzerte Wagen zur gleichen Zeit, zwei Daimler und ein Borgward Hansa 2400, in hohem Tempo den Schlagbaum rammten, und weg waren sie.
»Das passierte in den frühen Jahren so oder ähnlich einige Male. Wenn wir sie zu verfolgen versuchten, haben sie kleine Nagelbälle rausgeworfen. Dabei war der Übergang erst zwei Jahre alt. Man hatte ihn extra neu eingerichtet, weil die Schmuggler an dieser Stelle verstärkt die grüne Grenze genutzt hatten. Ich war von Anfang an dabei, ganz frisch als Zollassistent. Das Verrückteste an der Sache war, dass ein wesentlicher Teil der Ware aus Belgien kam.«
»Belgien?«
»Ja, einen Teil des Kaffeeschmuggels, der am Dreiländereck konzentriert war, unten bei Aachen, den haben sie durch Holland nach Norden umgeleitet, bevor es nach Deutschland weiterging. Da unten wurde es immer schwieriger, die Grenzsicherung hatte in der Gegend viel mehr Personal als wir hier in unserer kleinen Klitsche, und die klügste und am besten organisierte Gruppe machte jetzt diesen Umweg. Sie hatten einen Kontaktmann in Granderath, nicht älter als ich. Später wurde aus dem Kontaktmann der eigentliche Organisator, der Kopf der Gruppe. Der Schmugglerkönig von Granderath. Ist vor zwei Jahren gestorben, der Herr Hermanns. Seine beiden Söhne konnten studieren, und von den Enkeln ist der Heinz-Leo Rechtsanwalt in Düsseldorf geworden, der Hans arbeitet beim Finanzamt Kleve und der Herbert in Straelen in der Firmenleitung eines großen Blumenversands.«
Die Granderather, soweit sie arbeiten und nicht zu jung oder zu alt dafür sind oder sogenannte Transferleistungen beziehen, sind mehrheitlich in Straelen beim Gemüse, beim Obst oder bei den Blumen beschäftigt. Meistens ziehen sie auch dorthin, sobald ihnen ihr Arbeitsplatz einigermaßen sicher erscheint.
Martin erzählt gern von den frühen Zeiten des Grenzdiensts und des Schmuggels, die er selbst wahlweise die romantische oder die heroische Periode nennt. Später, als der Kaffee-, Tabak- und Butterschmuggel nicht mehr diese Bedeutung hatte oder überhaupt keine Rolle mehr spielte, wurde die Arbeit zwar vorübergehend weniger gefährlich, aber auch nüchterner. Es ging jetzt eher darum, Frachtpapiere und Dokumente lesen zu können und den versteckten Trick ausfindig zu machen.
»Da saß ab Mitte der Fünfziger einer in der Zollfahndung in Düsseldorf, von dem ständig neue Hinweise kamen, wie der Feind – er hat die Schmuggler immer nur den Feind genannt – seine Techniken schon wieder verfeinert hatte. Der war schon älter, Ende vierzig, und hatte bei den Nazis Karriere gemacht. Da war er nicht beim Zoll, sondern in der Abwehr bei Admiral Canaris, als Fachmann für gefälschte Dokumente. Den haben sie gleich aus der Versenkung rausgeholt, als die Schmuggler immer raffinierter wurden, und er ist dann auch schnell die Leiter hochgeklettert, saß Anfang der Sechziger schon in Bonn. Du hast ihn vielleicht kennengelernt? Er war später Leitender Regierungsdirektor und …«
»Anfang der Sechziger war ich zwölf oder dreizehn Jahre alt, Martin. Da kannte ich noch nicht mal die Beatles, geschweige denn einen Zollfahnder. Als ich nach Bonn kam, war dein Mann entweder schon im Ruhestand oder tot, nehme ich an.«
Martin Taubert hat in den Erzählungen aus seinem Leben und in seiner Sicht auf die Welt weitgehend jenes schöne Stadium der Gleichzeitigkeit erreicht, das auch ich anstrebe. Mit neunzig sind die Grenzen zwischen den Stationen der eigenen Lebensgeschichte offenbar weitgehend aufgehoben. Zumindest ist keine davon wichtiger oder weniger wichtig als andere, von der unmittelbaren Gegenwart vielleicht abgesehen, die gegenüber der angehäuften Geschichte ziemlich belanglos ist. Aber die früheren Zeiten können jederzeit präsent werden, und dann leuchten sie, als sei es gerade gestern geschehen. Mit Senilität oder gar Demenz hat das nichts zu tun. Martin ist im Gegenteil ein hellwacher Geist und weiß mehr, so denke ich manchmal, als alle anderen 1141 Einwohner von Granderath zusammen, mich selbst eingeschlossen.
Dieser Leitende Regierungsdirektor jedenfalls, von dem er mir erzählt hatte, kam kurz vor seiner Pensionierung zu Fall, als sich herausstellte, dass er am Ende seiner Zeit als Zollfahnder, bevor er nach Bonn ging, die Hand aufgehalten hatte, ausnahmslos bei den ganz Großen, damit es sich auch lohnte.
»Wer an der Grenze steht«, sagte Martin, »kommt schnell mal einen Schritt vom Wege ab und gerät auf die andere Seite des Schlagbaums.«
Granderath hat sich bisher nicht eingemeinden lassen. Als ich eingezogen war, bekam ich sehr bald ein Begrüßungsschreiben des Bürgermeisters, der hoffte, ich würde mich in meiner neuen Heimat – Heimat! – wohlfühlen, und in dem aufgeführt war, was man in Granderath und Umgebung alles anstellen kann. Das war natürlich ein irgendwann einmal erstelltes Standardschreiben, vorgesehen für alle Neubürger. Die Gemeindeverwaltung hat jedoch nur selten Gelegenheit, es zu verschicken, weil Granderath schrumpft, statt Neubürger anzuziehen. Vor drei Jahren ist ein Künstlerpaar im Rentenalter in ein altes Haus am Südrand des Ortes eingezogen, das war es wohl mit den Neubürgern. Genau genommen, weiß Martin, handelt es sich um einen Künstler mit seiner Frau, einer pensionierten Gymnasiallehrerin, die mit ihren Ruhebezügen für zuverlässiges Geld sorgt. Im Sommer sieht man beide manchmal im Garten Tee trinken. Sie grüßen mich sogar. Einmal hatte ich den Eindruck, sie wollten mich aufs Grundstück winken und mir eine Tasse Tee anbieten, schienen dann aber im letzten Moment zurückzuscheuen. Sie wissen sicher, dass auch ich ein Zugezogener bin. So bleiben wir füreinander ein vages Gerücht und winken uns aus sicherer Entfernung zu. Da sie mich nicht hereingebeten haben, muss auch ich sie nicht einladen, und nach wie vor bleibt Martin mein einziger Besucher.
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