»Sie werden mich nie stören«, sagte ich. »Ich habe nichts zu tun.«
»Granderath hat von der Grenze gelebt«, sagte Martin Taubert, bevor er ging. »Jetzt, wo es sie nicht mehr wirklich gibt, wird auch Granderath eines Tages verschwunden sein.«
Eigentlich hatte ich meinen Ort schon Anfang der Achtziger gefunden, als es mich nach Bonn verschlug, und ich hatte ihn spätestens verloren, als ich aus der Politik rausgeflogen war und auch mein Vertrag an der Frankfurter Uni nicht mehr verlängert wurde. Nachdem mein Vermieter mich endlich aus meiner Wohnung in der Bonner Südstadt vertrieben hatte, verzichtete ich darauf, diesen Ort länger zu verteidigen. Von meinem Besitz verkaufte ich das Meiste, sicher unter Wert – ich bin kein Geschäftsmann, sondern ein ehemaliger Staatsdiener –, den Rest lagerte ich ein. Das Möbel, das mir am liebsten war, den kleinen Schreibtisch aus der Wiener Werkstätte, wollte ich meinem Freund Uli Goergen schenken, Inhaber eines philosophischen Lehrstuhls an der Frankfurter Universität. Er wollte ihn aber nur annehmen, wenn er mir dafür ein kleines Entgelt geben dürfe. Es wäre sinnlos gewesen, auf dieser Ebene mit ihm zu streiten, denn Uli, dessen berühmtester Satz das unter Freunden so oft gehörte Ich kann nur Ironie war, wurde in Wahrheit von früh an von einer Zwangsvorstellung verfolgt. Da er, nach eigenen Aussagen, sein Leben lang nur Glück gehabt hatte, lebte er in der ständigen Angst, dieses Glück werde ins allergrößte Unglück umschlagen, wenn er nicht immer und überall genug davon abgab. Das kleine Entgelt reichte für die nächsten drei Monate, ohne dass ich meine nicht allzu üppigen Rücklagen angreifen musste, und als ich von meinem ersten Streifzug zurückkam, nach etwas mehr als einem Jahr, hatte schon der Erfolgszug von Das Sonja-Komplott begonnen. Die Göttin Zufall, vielleicht war sie auch nur ein Schutzengel, griff damals wieder einmal freundlich in mein Leben ein.
Ich war keineswegs elf Monate lang Woche für Woche oder gar Tag für Tag an einen anderen Ort gezogen. Ich war Nomade, aber nicht auf der Flucht. Ich fuhr eine Weile an der Loire entlang und fand schließlich für mehrere Wochen ein Zimmer auf einer ehemaligen ferme nahe Meung-sur-Loire. Von dort aus machte ich meine kleinen Streifzüge, die bis nach Tours führten. Abends fuhr ich nach Meung zum Essen und mischte mich mit meinem schlechten Französisch unter die Leute.
In der letzten Woche wurde ich krank und verließ kaum noch mein Zimmer. Die Wirtin kümmerte sich rührend um mich und versuchte, mich mit zu viel Essen aufzupäppeln. Als ich dann wieder auf die Beine gekommen war, war es draußen deutlich kälter geworden.
Ich floh nach Paris und konnte eine gute Woche bei meinem Freund Pierre wohnen, der mir in seiner kleinen Wohnung in der Rue de Bourgogne großzügig ein Zimmer zurechtmachte. Er hatte viel zu tun in diesen Tagen, aber abends waren wir manchmal zusammen unterwegs. Paris leuchtete in jenem Herbst noch immer vom Sieg der Bleus im Sommer. Von riesigen Werbeplakaten sah das ernste Gesicht von Zinedine Zidane in stillem Triumph auf die Bewohner und Besucher der Stadt hinab. Wofür damit geworben wurde, ist mir entfallen: Zizous so strenger wie gütiger Blick auf die Massen ließ alle Markennamen verblassen.
Nach einer Woche verabschiedete ich mich. Im gesamten Jahrzehnt meines Nomadentums habe ich immer wieder solche Kurzbesuche bei Freunden und Bekannten gemacht, selbstverständlich auch in Deutschland. Ulrich Goergen und seine Frau Barbara haben mich in diesen Jahren sehr oft beherbergt; ich war dort jederzeit willkommen und konnte auch länger bleiben. Ich starb also nicht an zu viel Alleinsein, sondern gehörte eher zu den Gyrovagen , jener vierten Art der Mönche, von denen es in der Regel des heiligen Benedikt heißt: Ihr Leben lang ziehen sie landauf und landab und lassen sich für drei oder vier Tage in verschiedenen Klöstern beherbergen. Immer unterwegs, nie beständig, sind sie Sklaven der Launen ihres Eigenwillens und der Gelüste ihres Gaumens . Die Benediktinerregel hatte ich an dem Tag gekauft, als ich meine leergeräumte Wohnung in der Bonner Kurfürstenstraße endgültig verließ und mich auf den Weg machte, und die bösen Sätze, mit denen der heilige Benedikt auf mich, auf meinen Eigenwillen und meine Gaumengelüste zeigte, las ich ausgerechnet in Paris am frühen Abend, bevor ich mit Pierre ein letztes Mal essen ging.
Am nächsten Morgen machte ich mich auf den Weg nach Norden, und gut vier Stunden danach war ich angekommen an meinem heimlichen Ort, meiner spröden, verhärmten Geliebten unter den Städten, von der niemand nichts weiß.
An diesem Ort blieb ich den ganzen Winter.
Seitdem ich 1982 nach Bonn gekommen war, ins Herz der Macht, wie mein Chef sich entgegen seiner sonstigen Redeweise damals etwas blumig ausdrückte, hatten mich meine kleinen Fluchten am Wochenende oder in ganz kurzen Urlaubszeiten immer wieder dorthin geführt. Ostende kannte ich lange nur von der Fähre nach und von England, angefangen mit meinem ersten Besuch in London 1966. Dann, in den späten Siebzigern, damals arbeitete ich noch in Speyer, verpasste ich einmal eine Fähre und musste übernachten. Es war schon Oktober, aber noch hatte alles geöffnet, und als ich nach dem Essen an der Albert-Promenade am Meer entlangging, das sich zwar im Dunkel versteckte, aber gut zu hören war, und dann durch die Straßen des Zentrums – auf der anderen Straßenseite einmal angetrunkene, grölende Engländer, dann aber wieder überraschend stille Ecken –, dachte ich, die Stadt sei vielleicht einen längeren Aufenthalt wert, in der Vor- oder Nachsaison womöglich, in einem kleinen Hotel, das nicht unbedingt Meerblick haben musste, und abends Muscheln in einem der Restaurants an der Promenade: Moules frites, Moules à la Crème, Moules marinières und so weiter.
So ist es auch gekommen, das erste Mal 1983 und danach immer, wenn es sich ergab. Verlängerte Wochenenden, Kurzurlaube, Karnevalsfluchten. Keinem meiner Freunde habe ich je davon erzählt, und ich wäre lange nicht auf den Gedanken gekommen, Sonja nach Ostende mitzunehmen, bis auf dieses eine Mal, bevor sie endgültig verschwand. Aber ich war dann im letzten Moment nach Knokke abgebogen, wo wir das Wochenende verbrachten, und hatte mein Geheimnis bewahrt. Selbst in dieser Phase schlimmster Verfallenheit, als ich kurz davor stand, sie heiraten zu wollen, mochte ich Ostende nicht mit ihr teilen.
Ich konnte sie mir auch nicht im Hotel Louisa vorstellen, das ich bei meiner damaligen, durch die verpasste Fähre erzwungenen Übernachtung entdeckt hatte und dem ich treu blieb.
Kam ich nach Ostende, kam ich auf eine Art und Weise nach Hause wie an keinen anderen Ort der Welt. Dabei hatte ich von früh an ein großes Talent, schnell zu Hause zu sein; vielleicht ist das mein größtes Talent überhaupt. Auch der Nomade, gerade er, braucht die Orte, an denen er jeweils zur genau richtigen Zeit zu Hause ist.
Aus dem Journal meiner Tätigkeiten in Ostende, seit damals:
Am frühen und am späten Abend über den Strand laufen, vor und nach dem Essen. Am frühen Abend unter vielen Menschen, die alle hungrig werden wollen, wobei bekanntlich nichts so sehr hilft wie Seeluft. Am späten Abend oft allein oder nur mit wenigen Anderen, vermutlich Einheimische.
Auf einer Bank am Kai in der Spätsommerwärme in einer deutschen Zeitung über den Tod von Georges Simenon lesen.
Mit dem Hotelier sprechen, mit Kellnerinnen, Verkäuferinnen. Kurze, zielgerichtete, in der Regel freundliche Dialoge, die zu keiner weiteren Beziehung führen.
Ein blau-weiß gestreiftes Sweatshirt mit der großen Aufschrift Bleu de mer und ein marineblaues T-Shirt mit dem gleichen Text kaufen, im atlantischen Küstensommer, als seien wir womöglich an der Côte d’azur.
Читать дальше