Dennoch hält Karlfried Graf Dürckheim treffend fest:
Mit dem Wort „initiatisch“ ist eine Dimension des menschlichen Seins angesprochen, die sich sowohl von dem unterscheidet, was man gewöhnlich unter „Religion“ versteht, wie auch von aller „Therapie.“
Das Initiatische betrifft eine Dimension menschlichen Seins, die zu einer bestimmten Stufe des Menschseins gehört. Das Wesen dieser Stufe besteht darin, dass dem Menschen auf ihr zum Bewusstsein kommt, dass die eigentliche Wirklichkeit, sowohl seiner selbst wie seiner Welt, nicht die ist, die das natürliche Ich als solche begreift. Das natürliche Ich versteht darunter die Realität, die ihm als eine raumzeitlich bestimmte Wirklichkeit sinnenhaft begegnet und seinem rationalen Bewusstsein mehr oder weniger zur Erkenntnis und Meisterung zugänglich ist, und als „objektive“ Wirklichkeit seinen „subjektiven“, von Trieben und Gefühlen bestimmten „inneren“ Zuständen gegenständlich gegenübersteht. Auf der zum initiatischen Weg befähigten Stufe erkennt der Mensch, dass diese Weltsicht nur einen Aspekt … einer anderen, eigentlichen, überweltlichen Wirklichkeit darstellt …
Es gibt das Erlebnis einer Wirklichkeit, die das natürliche Ich und sein Begriffsvermögen überschreitet, ja, sogar paradox zu ihm steht. Diese Erfahrung nimmt die in ihr aufgehende übernatürliche Wirklichkeit aus dem Bereich bloßen Glaubens heraus und fügt sie dem Wissen des Menschen hinzu … Der Mensch einer bestimmten Stufe hat nicht nur gelegentlich solche Erlebnisse, sondern fühlt sich in ihnen beheimatet und der in ihnen aufgehenden Wirklichkeit verpflichtet. 3
Das Wort „Initiation“ kommt uns heute so weit weg, mythisch und mystisch vor, weil wir diese Art des Lehrens und Lernens weit hinter uns gelassen haben. Wir beschränken die Wirklichkeit doch weitgehend auf die „raumzeitlich bestimmte Wirklichkeit“, wie Dürckheim sagt, der wir einen objektiven Gehalt beimessen. Heute muss ein Mensch nur gut auswendig lernen, um sich Fachwissen anzueignen und die entsprechenden Examen zu bestehen. Dann bekommt er einen Titel. Ob er wirklich „ein Händchen“ für die Sache hat, ob er einer Berufung folgt und Reife gewonnen hat, die ihn zu einem Meister machen, das interessiert gemeinhin nicht. Clinton Calahan sagt:
Ein initiatorischer Prozess ist der Aktivierungsprozess, der eine Person in die authentische Weisheit von Verantwortung und Konsequenz bringt … Die moderne Kultur erklärt, dass wir automatisch mit 18 oder 21 Jahren erwachsen sind. Doch das ist nicht der Fall. Unser Irrtum ergibt sich aus unserem mangelnden Verständnis darüber, was einen Erwachsenen ausmacht. 4
Menschen generell mit 18 Jahren als „mündig“ zu bezeichnen, lässt einen vermuten, dass dahinter eine Art maschinelles und industrielles Denken steckt, welches Menschen gleichschaltet und nach Kriterien für „erwachsen“ erklärt, die gar nichts mit ihrem Menschsein zu tun haben können, denn dieses ist individuell.
Das Problem der Unklarheit, was Erwachsensein, Reife und Mündigkeit eigentlich bedeuten und wie wir sie definieren wollen, ist im Bereich der Spiritualität noch viel größer bzw. diffuser als auf der weltlichen Ebene. Um heute ein Pastor bzw. Gemeindeleiter zu sein, muss einer nicht einmal bekehrt, geschweige denn wiedergeboren sein. Er kann den „Job“ nach den Vorgaben der theologischen Fakultät studieren und dann nach den Anforderungen seiner jeweiligen kirchlichen Institution ausführen, die ihm aufgrund bestandener Prüfungen den Titel „Pastor“ o. Ä. verleiht. Was seine menschliche und geistliche Reife betrifft, so ist das „Privatsache“. Er muss nur nach Vorgabe funktionieren und alle sind zufrieden. Heute gibt es entsprechend immer weniger Berufe und immer mehr Jobs . Selbst Geistliche sehen ihre Arbeit inzwischen zusehend als „Job“ an, d. h. sie definieren ihre Arbeit funktional.
Ursprünglich geht es in der Religion um die „Rückverbindung zum Heiligen, Transzendenten und Absoluten“ (Wikipedia). Ohne eine solche Verbindung, also ohne eine spirituelle Anbindung, ist Religion nur ein frommes Regelwerk, eine Ideologie oder Tradition. Was damit gemacht werden kann, ist uns aus der Religionsgeschichte hinreichend bekannt. Predigt ein nicht initiierter Mensch – also einer, der „das Heilige“ nicht selbst gesehen und erfahren hat, den Weg der Hingabe daran (der Heiligung) nicht gegangen ist und die Hand des Herrn nicht berufend und bestimmend auf sich gespürt hat – über eine Bibelstelle wie Offenbarung 1,4-6 im Gottesdienst, dann ist das hohl und schal. Theologisch gesehen vielleicht korrekt, aber langweilig und nichtssagend, obwohl es dabei um die größten und heiligsten Dinge geht.
Meiner Meinung nach müsste man ganze Bibelschulklassen und nachträglich so manchen christlichen Leiter in die Wüste, auf eine einsame Insel oder in die Berge schicken. Vierzig Tage lang Einsamkeit und Schweigen, Fasten und Gebet würden ihre Wirkung sicherlich nicht verfehlen! Immerhin hat der geistliche Dienst auf diese Weise bei Jesus begonnen! Der Geist trieb ihn für 40 Tage in die Wüste und er kam verwandelt zurück (vgl. Lukas 4). Dies sind die Orte, an denen klassischerweise Initiation geschieht, Gemeindesaal und Kanzel sind dafür ungeeignet. Leider kommt so etwas in der pastoralen Ausbildung von heute nicht vor, wie so vieles Wesentliche.
In den archaischen Gesellschaften zogen sich die Initiationsriten, deren Ziel es war, Jungen zu Männern zu machen, oft über viele Monate hin. Die Initianden zogen aus ihrem Dorf hinaus in die Wildnis und die Absonderung, in der sie in die „Heilige Geschichte“ eingeweiht wurden, die ihre Kultur und Welt begründete, der entsprechend zu leben sie von den Ältesten gerufen und verpflichtet wurden.
Das Ziel einer Initiation ist nicht die Sammlung von Informationen über Themen, sondern die Berührung damit. Wenn ein Mensch von der „Gnade und dem Frieden“ Gottes berührt, ja sogar davon ergriffen wird, dann kann er den Weg weitergehen bis vor den Thron, wo sich neben Jesus Christus auch jene „sieben Geister“ Gottes befinden (Offb 1,4-6). Macht er dann Erfahrungen mit diesem Thron und dem vielfältigen Geist, wird er seiner Qualitäten teilhaftig: sowohl der Gnade als auch des Friedens, des Königtums ebenso wie des Priestertums.
Sind wir in diese Dimensionen eingetreten – und sie in uns –vermögen wir etwas von der ewigen „Herrlichkeit und Macht“ dessen zu berichten, der dort auf dem Thron sitzt – in einer angemessenen Art und Weise, nämlich in einer königlichen und priesterlichen Haltung. Und es handelt sich dann nicht mehr nur um abstraktes Wissen, das wir weitergeben, sondern um ein Zeugnis . Wir sprechen von dem, was wir „gesehen und gehört“ haben, was wir geschmeckt und erfahren haben, was uns ergriffen und verwandelt hat – und das in der Kraft des Geistes und „nicht mit Worten, gelehrt durch menschliche Weisheit, sondern mit Worten, gelehrt durch den Geist“ (1 Kor 2,13). Wir sind von Theoretikern und „Besuchern“ des Thrones der Gnade zu einem Teil dieses Thrones geworden. Wir sind damit identifiziert , also existentiell verbunden und gehören jetzt dazu. Es ist unser Leben. Wir sind seine Boten. Und das wissen wir nicht nur im Kopf, sondern mit jeder Faser unseres Seins.
Was von Anfang an war, was wir gehört, was wir mit unseren Augen gesehen, was wir angeschaut und unsere Hände berührt haben vom Wort des Lebens … was wir gesehen und gehört haben, verkündigen wir auch euch, damit auch ihr mit uns Gemeinschaft habt; und zwar ist unsere Gemeinschaft mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus (1 Joh 1,1-3).
Hier wird die Identifikation „Gemeinschaft“ genannt. Das heißt, die Erfahrung und Bezeugung des „Anfangs“, der den Aposteln offenbart worden ist – „Das Leben ist geoffenbart worden, und wir haben gesehen und bezeugen euch das ewige Leben, das bei dem Vater war und uns geoffenbart worden ist“ (1 Joh 1,2) –, führt nicht nur zu einer theologischen Kenntnis der Schöpfung der Welt (durch den Vater) und der Erlösung (durch Jesus Christus), sondern zu einer Gemeinschaft mit ihnen im Heiligen Geist. Das Ergebnis dieser Gemeinschaft ist Freude. „Dies schreiben wir euch, damit unsere (bzw. eure) Freude vollkommen sei“ (1 Joh 1,4).
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