Die großen Veränderungen, nach denen viele Menschen sich so sehr sehnen, geschehen in aller Regel nicht in den gediegenen Wänden einer Gemeinde oder theologischen Ausbildungsstätte, sondern an abgelegenen Orten, wo sie ohne Ablenkung sind und genügend Abstand zum Alltagsgeschäft haben, um zur Besinnung zu kommen und eine direkte Erfahrung mit dem zu machen, der sie „aus der Finsternis ins Licht“ ruft.
Es scheint fast so, als wäre proportional zum angestiegenen theologischen Wissen die Qualität der Identität der Ecclesia (wörtl.: die „Herausgerufene“ ) in ihren Berufungen und Bestimmungen von Gott her rückläufig.
Sind unsere Verantwortlichen selbst nicht den Weg der Initiation gegangen, sind sie entsprechend auch nicht in der Lage dazu, uns „in die Wüste“ oder „auf den heiligen Berg“ zu führen. Oder sie können nicht erkennen, wann der Heilige Geist einen jeden von uns ruft, aufzubrechen und den Weg der Verwandlung und geistlichen Reife zu gehen.
Natürlich kann man Ämter und Titel nach zweckrationalen Kriterien vergeben, aber das heißt noch lange nicht, dass auch drin ist, was draufsteht. Heute werden Ämter und Titel vorrangig funktional gesehen und entsprechend besetzt. Es geht allenthalben ums TUN und nicht ums SEIN. Wir sind aufgabenorientiert und nicht reifeorientiert. Aber Aufgaben erledigen ist etwas ganz anderes als Jünger sein und den heiligen Weg gehen.
Der bekannte Franziskaner Richard Rohr, der sich Jahrzehnte lang mit der Frage nach einer modernen Form von Initiation für Männer befasste und großartige Bücher darüber geschrieben hat, sagt in einem seiner Werke:
Motiviert zu meiner Arbeit hat mich immer wieder die Traurigkeit und Enttäuschung darüber, dass so viele Männer, die ich kennengelernt habe, kein inneres Leben zu haben scheinen – und das gilt auch für Pfarrer, Ordensleute und engagierte Laien, für hochrangige, erfolgreiche Führungspersönlichkeiten, von denen man eigentlich anderes erwartet. Sie sind daran nicht selbst schuld, wenn es überhaupt um Schuld geht. Niemand hat ihnen je etwas anderes geboten als das billige „Linsengericht“ Jakobs. Wir sind Nachkommen Esaus, wir haben unser Erstgeburtsrecht gegen Fast-Food-Religion eingetauscht (1 Mose 25,29-34). Und diese kann weder das Selbst noch die Welt in ihrer Tiefe fassbar machen. 1
Gnade euch und Friede von dem, der ist und der war und der kommt, und von den sieben Geistern, die vor seinem Thron sind, und von Jesus Christus, der der treue Zeuge ist, der Erstgeborene der Toten und der Fürst der Könige der Erde! Dem, der uns liebt und uns von unseren Sünden erlöst hat durch sein Blut und uns gemacht hat zu einem Königtum, zu Priestern seinem Gott und Vater: Ihm sei die Herrlichkeit und die Macht von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen (Offb 1,4-6).
Nichts was hier steht, kann man aus Büchern lernen oder in einer Bibelstunde abhandeln. Das sind große Dimensionen, die sich unserem analytischen Verstand entziehen und ihn übersteigen. Sie muss man erleben , um sie zu kennen. Und um sie erleben zu können, muss man dafür bereit gemacht, gereinigt und gestärkt und in eine angemessene Haltung gebracht werden. Man muss einem Ruf folgen, aufbrechen, Hindernisse überwinden, einen Weg gehen … Das alles sind klassische Aspekte von Initiation .
Wikipedia definiert den Begriff Initiationfolgendermaßen:
Initiation bezeichnet die Einführung eines Außenstehenden (eines Anwärters) in eine Gemeinschaft oder seinen Aufstieg in einen anderen persönlichen Seinszustand, beispielsweise vom Kind zum Erwachsenen, von der Novizin zur Nonne oder vom Laien zum Schamanen.
Die Überführung in einen anderen „Seinszustand“, darum geht es also. Das ist natürlich etwas ganz anderes als die Aneignung von mehr Wissen und abstrakter Theologie. Es geht um eine Einführung in das Ewige und das Heilige, wodurch man fraglos zuerst verwandelt und dann in Dienst gestellt wird, wenn man sich darauf einlässt .
Im Allgemeinen versteht man unter Initiation eine Gesamtheit von Riten und mündlichen Unterweisungen, die die grundlegende Änderung des religiösen und gesellschaftlichen Status des Einzuweihenden zum Ziel haben. Philosophisch gesagt, entspricht die Initiation einer ontologischen (wesensmäßigen, grundlegenden) Veränderung der existentiellen Ordnung. Am Ende seiner Prüfungen erfreut sich der Neophyt (der Initiand) einer ganz anderen Seinsweiseals vor der Initiation: Er ist ein anderergeworden. 2
In das göttliche Königtum und die ewige Priesterschaft muss man eingeweiht werden, sonst ist das alles nur graue Theorie, die im Alltag keinen Niederschlag findet. Alle genannten Begriffe: bereitgemacht werden, überwinden, sich einlassen, Einweihung … das alles sind Dimensionen und weitere typische Aspekte von Initiation .
In früheren Zeiten war es allgemein üblich, dass ein junger Mann Mentoren hatte; er wurde zur Ausbildung zu Meistern seines Fachs geschickt, bei denen er ganz praktisch in deren Kunstfertigkeiten unterwiesen wurde. Aber mehr noch, lebte er eine Zeit lang mit ihnen zusammen. Er studierte dabei ihr ganzes Sein und besuchte nicht nur ihren Unterricht in Werkkunde. Bis in die Neuzeit hinein war das Ausbildungs-Modell von Jesus allgemein verbreitet: Der Meister und die Schüler , die sich um ihn scharten. Die Schüler wurden dabei vom Meister nicht nur informiert, sondern initiiert. Sie nahmen Teil an seinem Leben und Dienst, seiner Sicht und Handhabung der Dinge, s einer Reife und seinem Geist . Nicht ein Lehrpensum und das Absolvieren von Prüfungen entschieden darüber, ob ein Schüler so weit war, als tauglich und bewährt eingestuft zu werden, fähig, auch andere zu unterweisen, sondern der Meister beurteilte die Qualität und Reife des Schülers. Dabei umfasste die Beurteilung den ganzen Menschen und nicht nur ein Fach.
Denn der Mensch sieht auf das, was vor Augen ist, aber der Herr sieht auf das Herz (1 Sam 16,7).
Gott prüft das HERZ des Menschen, er schaut hinter die Fassade und in die Tiefe, wo wir die sind, die wir wirklich sind – und wovon wir häufig herzlich wenig wissen. „Herzensbildung“ (Stichwort: „emotionale Intelligenz“) ist heute kein Fach in der Schule, entsprechend haben wir kluge Köpfe mit verkümmerten Herzen.
Das Ziel initiatischer Bildung ist es, einen Menschen an sein tiefes Inneres heranzuführen, ihm einen Spiegel vorzuhalten und zu Selbsterkenntnis und Selbstreflektion zu befähigen. Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis gehen Hand in Hand und sind vorwiegend eine Herzensangelegenheit. Dabei spricht das Herz seine eigene Sprache, die nicht dem Intellekt entspricht und darum auch nicht allein mittels Lehrbuch und Seminar vermittelt werden kann.
Das Herz eines Menschen zu erkennen, seine einmalige Art, wie es wahrnimmt, empfindet und die Dinge betrachtet, das ist eine Aufgabe, der unsere verkopften Schulen nicht gerecht werden können; dafür braucht es eine ganz andere Qualität von Lehrern, die natürlich selbst durch Prozesse der Herzensbildung gegangen und darin gereift sein müssen, um nun anderen damit zu dienen. Es braucht „Väter“.
In dieser Hinsicht hat die Bedeutung der Seelsorge in den Gemeinden zugenommen. Der Begriff der Seelsorge ist in den letzten Jahren immer breiter und ganzheitlicher formuliert worden, und zahllose neue Bücher sind erschienen. Jede Seele braucht Sorge, jeder Mensch einen Raum, in dem er sein kann, und ein Gegenüber, welches ihm Zeit und Gelegenheit gibt, sein Herz auszuschütten und über seine tieferen Beweggründe zu reflektieren und sich selbst auf die Schliche zu kommen. Wir sind der Überzeugung, dass es heute gerade die Seelsorge oder Supervision ist, wo eine Menge initiatischer Elemente zum Tragen kommen, auch wenn das dort vielleicht anders genannt wird.
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