Zegú blieb unbeirrt. „Ihr beide habt verhindert, daß die Piraten die Menschen von Hawaii auslöschten. Die Götter haben euch gesandt.“ Er verneigte sich tief. „Wir sind euch – ewig ergeben.“
Hasard wollte etwas entgegnen, aber in diesem Augenblick ertönte ein unterschwelliges Grollen. Es näherte sich, unterlief den Dorfplatz und brachte ihm zum Vibrieren. Zegú und seine Untergebenen fielen auf die Knie und hoben die Hände zum Himmel.
„Pele, allmächtige Göttin!“ rief der Häuptling aus. „Die Gefahr ist gebannt, und ich werde dein Orakel befragen – über das Schicksal, das diesen Übeltätern gebührt.“ Anklagend wies er mit der Hand auf die Hütte, in der sich die neun Gefangenen befanden. „Wenn du bereit bist, mich zu empfangen, so gib mir ein Zeichen, große Pele – nur ein einziges Zeichen noch!“
Thomas Federmann hatte die Worte, die der Häuptling in seiner Muttersprache ausgerufen hatte, gedämpft ins Englische übersetzt. Jetzt fügte er hinzu: „Pele – das ist die feuerspeiende Götting der Vulkane. Die Polynesier sind davon überzeugt, daß sie in den Bergkratern haust und brennenden Schleim ausspuckt, wenn sie wütend ist. Man kann ihnen diesen Glauben nicht nehmen.“
„Vulkane?“ wiederholte Bob Gray, der nicht weit vom Seewolf entfernt stand. „Das hat uns noch gefehlt.“
„Wie könnt ihr hier wohnen?“ fragte Siri-Tong.
„Die Vulkane sind schon lange nicht mehr aktiv gewesen“, entgegnete der Deutsche. „Und nach meinen Berechnungen wird Pele auch noch längere Zeit friedlich bleiben, höchstens mal ein bißchen grollen – so wie eben.“
„Berechnungen?“ Thorfin Njal trat näher. „Wie berechnest du denn so was? Und wie kannst du so sicher sein?“
Federmann lächelte. „Das setze ich dir bei Gelegenheit noch genauer auseinander, Wikinger.“
„Wir haben mit Vulkanen jedenfalls üble Erfahrungen gesammelt“, sagte Carberry. „Es hätte nicht viel gefehlt, und wir wären mitsamt dem Piraten O’Lear und seiner verdammten Galeone verschlungen worden.“
„Augenblick“, sagte Federmann. „Selbst wenn ein Ausbruch erfolgen sollte, wären wir an dieser Seite der Insel nicht gefährdet. Bei Eruptionen läuft die Lava immer zur anderen Seite der Insel ab – nach Nordosten.“
„Dorthin, wo der Strand schwarz ist“, vervollständigte Hasard. „Ja, das hört sich logisch und plausibel an. Im. übrigen solltet ihr euch wirklich nicht beunruhigen, Männer. Wie es scheint, ist Pele uns wirklich wohlgesonnen. Sie hat uns eben wohl nur eine gute Nacht wünschen wollen. Jetzt schweigt sie wieder.“
Thomas und die Rote Korsarin lachten leise, aber Carberry und ein paar andere schauten immer noch ziemlich verdrossen drein. Seegefechte und Entermanöver, Stürme und jede Art von Entbehrungen an Bord ihrer „Isabella“ waren etwas, das sie nicht mehr aus der Fassung brachte. Nur die verborgene, lauernde Gefahr, die sie nicht bewältigen konnten und die Anlaß zu Aberglauben und Spökenkiekerei gab – die konnten sie nicht leiden.
Pele gab kein Zeichen mehr, das Grollen war verebbt. Zegú und die anderen Eingeborenen erhoben sich wieder. Der König von Hawaii – wie er sich offenbar ohne jegliche Selbstüberschätzung nannte – trat wieder zu Hasard und Siri-Tong und sagte in seinem holperigen Englisch: „Wie können wir euch huldigen? Wie können wir unseren Dank am besten ausdrücken?“
„Ich habe eine Idee“, erwiderte Hasard. „Ich lade euch auf mein Schiff ein – euch alle. Wir werden ein Bankett feiern und dabei alles besprechen, was es zu besprechen gibt. Wir müssen nur Wachen einteilen, die sich im Turnus von drei, vier Stunden vor der Hütte der Gefangenen ablösen.“ Er lächelte. „Ja, Häuptling Zegú, wir könnten auch hier in deinem Dorf den Freundschaftspakt feiern, aber von Bord der ‚Isabella‘ aus behalten wir die See besser im Auge. Dort fühlen wir Seewölfe uns sicherer.“
„Dein Wunsch ist mir Befehl“, antwortete Zegú.
Er klatschte zweimal in die Hände. Sofort setzte emsiges Treiben ein. Die Frauen trugen Krüge mit Getränken und Körbe mit Eßwaren auf, die Männer schleppten frisch erlegtes Wildbret an Tragestöcken heran. So bildete sich eine Prozession aus lachenden, fröhlichen Menschen, die sich schließlich durchs Dickicht zur Ankerbucht der Schiffe hin in Marsch setzte.
Der Profos schritt neben dem Kutscher, stieß diesen mit dem Ellenbogen an und raunte ihm zu: „Übrigens, was die Sache mit der Proviant- und Trinkwasserbeschaffung betrifft, so brauchen wir uns keine Sorgen mehr zu bereiten.“
„Wirklich nicht?“
Carberry wies mit dem Daumen auf die Frauen, die hinter ihnen hertrippelten und ihre Lasten auf den Köpfen balancierten. „Da, siehst du nicht, wie ich so was organisiere?“
Das große Festbankett auf der „Isabella VIII.“ wurde keineswegs zu einem herrlichen Besäufnis, wie man es sich bei Nathaniel Plymson daheim in der „Bloody Mary“ von Plymouth vorstellen mochte – nein, das hier, in dieser lauen Tropennacht, das war etwas ganz anderes. Ein Traum voll exotischem Zauber, das war die treffende Bezeichnung.
Die Getränke, die die Eingeborenen servierten, waren mild und hatten wenig Alkoholgehalt. Wein, Bier, Whisky und Rum aus den Beständen des Seewolfs und der Roten Korsarin flossen auch, aber es ließ sich keiner über den Pegelstand des Verträglichen vollaufen. Nicht einmal Missjöh Buveur. Und das war schon ein kleines Wunder.
Vielleicht lag es an der Anmut der Mädchen. Sie kredenzten nicht nur Flüssiges aus Krügen und Fisch, Wild und Früchte, sie tanzten auch zu den Klängen einfacher Instrumente, die von ein paar jungen Männern zum Tönen gebracht wurden. Die Polynesier waren musikalische, künstlerisch hochbegabte Menschen. Ihr Gemüt war ausgeglichen und von vollkommener Harmonie.
Carberry saß mit verzücktem Gesicht auf der Kuhlgräting und schaute den Tänzerinnen zu.
„Mann, ich kann das gar nicht fassen“, sagte er zu Dan O’Flynn. „So was Hübsches hier auf dem Oberdeck unserer ‚Isabella‘ – das ist das Allergrößte …“
„Ja, so etwas sehen und sterben, was, Ed?“ meinte Dan.
Arwenack kauerte hinter ihm auf der Holzroste und hatte einen noch verträumteren Gesichtsausdruck als der Profos. Sogar Sir John sah entrückt aus. Er hockte in den Hauptwanten und rührte sich nicht mehr vom Fleck.
„Sterben, wieso das denn?“ fragte Carberry.
„Ach, nur so. Irgendwer hat den Spruch mal aufgebracht.“
„Versteh ich nicht. Ich fühle mich so jung wie Bill, unser Moses.“
„Na, nun übertreib mal nicht.“
Eins der Mädchen näherte sich mit schwingendem Schritt. Sie bückte sich, hängte dem verblüfften Profos einen Kranz aus Blumen um und trippelte wieder davon. Carberry fuhr ganz behutsam mit der Hand über die frischen Blumen. Man traute ihm soviel Feinsinn gar nicht zu.
Er nahm einen Schluck Wein aus seinem Becher, seufzte und sagte: „Das ist schöner als Weihnachten und Ostern zusammen, Leute.“
Hasard, Siri-Tong, Shane, Ben Brighton, Ferris Tucker, Old O’Flynn, Thorfin Njal, Juan, der Boston-Mann und ein paar andere saßen auf dem Achterdeck bei Zegú und Thomas Federmann. Auf Hasards Drängen hin hatte Thomas über seine Vergangenheit zu sprechen begonnen.
„Ich bin auf abenteuerlichen Wegen hierhergelangt“, begann er. „Das ist eine sehr lange Geschichte. Die Kurzfassung lautet folgendermaßen: Als ich aus verschiedenen Gründen nicht länger in Neu-Granada bleiben wollte, schlich ich mich auf dem Landweg bis nach Panama und dort, als blinder Passagier auf ein Schiff. Das war eine Galeone, die mit Kurs auf die Philippinen auslief.“
„Etwa die Manila-Galeone?“ fragte Ben Brighton.
„Du meinst – die ‚Nao de China‘?“
„Ja, die.“
„Nein“, erwiderte Thomas. „Auf jenem Schiff befanden sich kaum Güter, von Wertvollem ganz zu schweigen. Vorwiegend diente es dazu, Menschen von Neuspanien nach Manila umzusiedeln. Also, unterwegs wurde ich entdeckt und von dem strengen Kapitän in einer Nußschale ausgesetzt. Wäre ich nicht durch Zufall auf diese Insel zugetrieben, wäre es mit mir aus gewesen. Die Eingeborenen empfingen mich auf See wie einen Gast, luden mich in eins ihrer Auslegerboote um, und seitdem lebe ich hier.“
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