Am fünften Tage untersuchte Doc Freemont Blackys Fuß sehr lange und gründlich. Hasard, Ben Brighton und der Kutscher waren mit in der Kammer und mußten sich einmal mehr mit Geduld wappnen.
Die fürchterliche Knöchelschwellung war zurückgegangen, nirgends zeigten sich gerötete Stellen, die auf eine Entzündung hindeuteten. Doc Freemont tastete den Fuß von allen Seiten ab, vor allem im Bereich des Knöchels. Er drückte da, er drückte dort. Blacky verzog keine Miene.
„Tut nirgends was weh?“ fragte Doc Freemont.
„Nirgends“, sagte Blacky. „Heiß ist mir auch nicht.“
„Kein Pochen oder Klopfen irgendwo?“
„Nein, nichts, Doc.“
„Hm.“ Doc Freemont, der auf der Koje saß, drehte sich zu Hasard um. „Ich schätze, wir haben’s geschafft. Meines Erachtens besteht keine Gefahr mehr, daß sich etwas entzündet, weil ein Knochenteilchen herauseitert. Der Knöchel sieht, den Umständen entsprechend, gut aus. Ich packe Fuß und Unterschenkel jetzt in Lehm, damit der Fuß ruhig liegt und der Bruch zusammenwachsen kann.“
Blacky riß die Augen auf. „Können Knochen denn noch wachsen, Doc?“
Doc Freemont lächelte und wandte sich ihm wieder zu. „Das nicht, mein Junge, aber an Bruchstellen bildet sich eine knochenartige Masse und fügt den Bruch wieder zusammen. Das dauert so drei, vier Wochen. In dieser Zeit müssen Fuß und Unterschenkel einen rechten Winkel bilden. Das erreiche ich dadurch, daß ich dir diese Lehmpackung verpasse. Wenn sie hart geworden ist, hält sie deinen Fuß in der erforderlichen Winkelstellung. Ich empfehle dir, in der ersten Woche nicht zu versuchen, den Fuß zu bewegen, auch wenn du möchtest. Später kannst du die Zehen ein bißchen spielen lassen. In drei, vier Wochen kann der Kutscher den Lehm entfernen. Aber aufgetreten wird noch nicht, das habe ich dir ja bereits erklärt. Ein bißchen massieren ist gut, ebenso Kreisen des Fußes sowie Anziehen und Beugen. Alles das aber vorsichtig, verstanden?“
„Verstanden, Doc.“ Blacky grinste von einem Ohr zum anderen.
Er erhielt seine Lehmpackung, die den Fuß fixierte, und der Kutscher empfing Doc Freemonts Anweisungen für die Weiterbehandlung.
Dann mußte auf Wunsch Blackys Bill geholt werden. Blacky flüsterte ihm was ins Ohr, Bill nickte und flitzte davon.
„Moment noch, Doc“, sagte Blacky geheimnisvoll.
Hasard, Ben Brighton und der Kutscher schauten sich verwundert an.
Minuten später kehrte Bill zurück – mit einem kleinen, hölzernen Kasten, den er Blacky gab.
Blacky nahm ihn entgegen und überreichte ihn Doc Freemont.
„Für Sie, Doc“, sagte er. Jetzt war er fast verlegen. „Hoffentlich gefällt es Ihnen.“
Doc Freemont zeigte sein feines Lächeln und klappte vorsichtig den Deckel auf. Hasard, Ben Brighton und der Kutscher reckten die Hälse.
In dem Kasten ruhte ein kleines, naturgetreues, holzgeschnitztes Modell der „Isabella“, voll aufgeriggt, mit dem laufenden und stehenden Gut, winzigen Blöcken und Taljen, kleinen Culverinen, den Drehbassen, dem Ruderhaus, und da stand unverkennbar ein Männlein: Pete Ballie. Und neben ihm, ebenfalls unverkennbar, ein schwarzhaariger Mann – Philip Hasard Killigrew.
„Ist das schön“, murmelte Doc Freemont andächtig.
„Als Erinnerung“, sagte Blacky und hatte einen roten Kopf. „Und weil Sie mein Bein geflickt haben, Sir.“
„Danke, mein Junge“, sagte Doc Freemont bewegt, „dieses Geschenk wiegt schwerer als ein Sack Gold. Es ist ein Kunstwerk – ein schöneres Kunstwerk als das Richten eines Knöchelbruchs.“
„Es gefällt Ihnen wirklich, Sir?“
„Die ‚Isabella‘ erhält einen Ehrenplatz in meinem Haus“, erwiderte Doc Freemont. „Und immer wenn ich sie betrachte, werde ich an euch alle denken und hoffen, daß ihr eines Tages gesund heimkehrt – ohne Knöchelbrüche oder ähnliche Blessuren.“
Am Nachmittag löste die „Isabella“ die Leinen, voll gefechtsklar. Jetzt würde Admiral Drake Farbe bekennen müssen. Es war die einzige Möglichkeit, eine Entscheidung herbeizuzwingen. Hasards einziger Trumpf in diesem tückischen Spiel war der, auszulaufen und sich blitzschnell auf jedwede nur mögliche Reaktion Drakes einzustellen.
Denn irgend etwas würde passieren, das war so sicher wie das Amen in der Kirche.
Wenn jemals die Seewölfe bereit gewesen waren, eine Sache durchzuschlagen, dann jetzt. Da bedurfte es keiner Aufmunterung. Eine kalte Entschlossenheit hatte sie gepackt. Das Warten war vorbei.
Bei Westenwind lief die „Isabella“ unter vollen Segeln aus der Mill Bay und auf die „Revenge“ zu.
Dort herrschte hektische Aktivität, wie unschwer zu erkennen war. Sie gingen ankerauf. Die Segel wurden gesetzt, die Kanonenpforten geöffnet.
Gut so, dachte Hasard grimmig. Damit wäre auch das klar: der Admiral wollte den Kampf. Und eigentümlich: irgend etwas in Hasard, das ihn wegen seiner drei Männer hoffen ließ.
Doch diese Hoffnung wurde furchtbar zerstört.
Sie alle sahen es, und ein Schrei der Wut und Empörung gellte zur „Revenge“ hinüber.
Drei Männer wurden aus dem Vorschiff gezerrt und zum Schanzkleid auf der Steuerbordseite geschleppt. Sie konnten sich nicht wehren, denn ihre Hände waren auf den Rücken gefesselt. Aber sie schienen auch gar nicht die Absicht zu haben, sich zu wehren. Fast gelassen stellten sie sich ans Schanzkleid.
Aber hinter ihnen reihten sich zehn Seesoldaten auf – mit Musketen.
Mit steinernem Gesicht hob Hasard das Spektiv und schaute hindurch. Er zuckte etwas zusammen, als die Gesichter von Matt Davies, Stenmark und Sam Roscill in dem Okular auftauchten. Er kniff das Auge zusammen, öffnete es wieder und betrachtete die drei Gesichter noch einmal.
Kein Zweifel – die grinsten! Die grinsten, als sei heute ein besonders fröhlicher Tag. Oder als gelte es, gleich bei „Plymmy“ die Puppen tanzen zu lassen. Oder ein bißchen mit seinen Ladys zu schäkern.
Dan O’Flynn neben Hasard murmelte erschüttert: „Die haben was auf der Pfanne, die drei. Wetten?“
Hasard atmete tief durch. „Siehst du auch, daß sie grinsen?“
„Und wie.“ Dan O’Flynn ließ das Spektiv sinken, durch das er ebenfalls gespäht hatte. Nachdenklich sagte er: „Aber sie sind gefesselt. Sonst könnte ich mir denken, daß sie einfach über Bord jumpen.“
Hasard starrte ihn an. Irgendeine Ahnung drängte durch seinen Kopf, ein Gedanke, aber er ließ sich nicht fassen. Sein Blick wanderte weiter, zur Kuhl, wo die Männer hinter den Culverinen lauerten. Dort stand auch Jeff Bowie. Der Kerl rührte mit seiner linken Hakenprothese in der Holzkohlenglut eines Kohlebeckens herum. Dann zerhieb er mit dem Haken ein Stück Holzkohle, das wohl zu groß war. Die Kohle spritzte nur so auseinander.
Hasard fuhr zusammen. Das war’s! Das mußte es sein!
„Was ist?“ fragte Dan O’Flynn erstaunt.
„Matts Prothese!“ stieß Hasard hervor. In seinen eisblauen Augen funkelten tausend Lichter. „Genial! Das Ding ist so scharf, um mühelos jede Fessel durchzutrennen. Das haben sie getan – und sich dann selbst wieder zum Schein gefesselt. Würden sie sonst so grinsen? Sag Ed Bescheid! Er soll zwei Männer bereit stellen, um auf der Backbordseite eine Jacobsleiter auszubringen – aber erst, wenn sie gesprungen sind!“
Dan O’Flynn sparte sich das „Aye, aye“ und raste zur Kuhl hinunter. Eine halbe Minute später zeigte Ed Carberry grinsend klar und spuckte in seine Pranken. Nur eine Minute später war die gesamte Crew informiert. Ihre verkniffenen Mienen verschwanden. Sie waren wie erlöst.
Auf Rufweite segelte die „Isabella“ an die „Revenge“ heran. Hasards Befehle waren klar. Wie es aussah, hatte er jetzt die Initiative übernommen – nur Drake wußte es noch nicht. Er würde eine böse Überraschung erleben.
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