Er hatte ihr auch Einzelheiten über den Kurs des Schiffes, der „Gran Duque de Almeria“, mitgeteilt, wenn sie sich im Kabelgatt heimlich getroffen hatten, aber sie, Florinda, konnte sich der meisten Details nicht mehr entsinnen, weil ihr die erdkundlichen und nautischen Begriffe zu fremd waren.
Nur eins hatte sie behalten: daß die Galeone in dieser Nacht die Azoren passierte.
Florinda sehnte den Augenblick herbei, in dem Andrés zu ihr in das unbequeme Versteck schlüpfen würde, um ihr mitzuteilen: „Die Neue Welt ist in Sicht!“
Daran richtete sie sich innerlich auf. Es war ihre einzige seelische Hilfe. Die Hoffnung war ein großer weißer Schwan, der vor der „Gran Duque“ dahinrauschte und zielsicher auf die Küsten der Zukunft zustrebte.
Florinda überlegte, ob sie die Apfelsine essen solle, die sie sich aufbewahrt hatte, ganz einfach nur, um etwas zu tun. Sie gelangte aber zu dem Schluß, daß das Obst dazu viel zu wertvoll war. Die letzte andalusische Apfelsine, die sie mit an Bord des Schiffes genommen hatte – Florinda wollte sie doch lieber so lange wie möglich aufbewahren. Sie wußte ja nicht, wieviel Zeit noch verstreichen würde, bis sie wieder so etwas zu essen erhielt.
Die Verpflegung an Bord der Galeone bestand größtenteils aus Dörrfleisch und hartem Schiffszwieback. Andrés, der in unregelmäßigen Zeitabständen erschien und nie genau sagen konnte, wann er zurückkehrte, brachte stets etwas davon mit. Sie wußte, er sparte sich diese Bissen im wahrsten Sinne des Wortes vom Mund ab, denn sie waren Bestandteil der Mahlzeiten, die er täglich wie alle anderen als Ration empfing.
Sie war ihm unendlich dankbar und himmelte ihn an. Wie er sie in Cadiz an Bord geschmuggelt hatte – allein das war ein Meisterstück gewesen. Wie rührend er um ihr Wohlergehen bemüht war und wie er sie verehrte! Sie würde ihm seinen Mut und sein aufopferndes Verhalten nie vergessen. Sie wußte, daß er sein Leben riskierte. Die Strafen für ein Mannschaftsmitglied, das einem blinden Passagier eines Segelschiffes half, waren drakonisch. Sie hörte nicht auf, es sich vor Augen zu halten.
Aber bei allem, was sie für Andrés Nortes de Checa empfand, würde sie sich an dieses Gefängnis nie gewöhnen können. Der unerlaubte Aufenthalt an Bord war für sie gleichsam ein Schlüsselerlebnis. Sie würde dieses Schiff und die ganze Seefahrt immer hassen und niemals vertraut werden, mit diesen schwankenden Bewegungen und der Übelkeit, die sie hervorriefen, mit dem Knarren der Blöcke und Rahen, dem Schwappen und Gurgeln der Fluten an den Bordwänden. Sie war für dieses Leben nicht geboren. Auch in einer gemütlichen Kammer des Achterkastells stellte sie sich eine solche Überfahrt kaum erfreulicher vor.
Aber welche andere Wahl hätte sie gehabt? Ihre Eltern hatten ihr den Umgang mit Andrés, dem Abkömmling eines verarmten Adelsgeschlechts aus Algeciras, strikt verboten.
„Dieser Hidalgo!“ hatte ihr Vater gerufen. „Dieser Nichtsnutz, dieser andalusische Schweinehirt! Er kann dir keine Zukunft bieten, er wird dich nur noch auf die schiefe Bahn bringen!“
Ja, es stimmte: Andrés hatte wirklich keinen einzigen Escudo oder Real in der Tasche gehabt, als sie ihren Plan geschmiedet hatten. Das hatte ihn aber nicht seiner Tollkühnheit beraubt. Wenn er selbst kein Schiff in die Neue Welt ausrüsten konnte, so heuerte er eben irgendwo als kleiner, unbedeutender Decksmann an – auf der „Gran Duque de Almeria“ beispielsweise. In der Neuen Welt Amerika musterte er dann wieder ab und ging seine eigenen Wege.
Auf legale Weise hätte er Florinda niemals mitnehmen können, auch dann nicht, wenn sie verheiratet gewesen wären. Die Anwesenheit von Frauen auf einem Kauffahrteifahrer wie diesem war eine Ungesetzlichkeit. „Weibsbilder“ hatten hier nichts zu suchen. Nicht einmal der Kapitän durfte seine Frau während der Überfahrt im Achterkastell einquartieren. Sie hatte gefälligst zu Hause zu bleiben.
Nur hin und wieder wurde ein Konvoi mit Siedlern in die Neue Welt geschickt. Auf den Schiffen dieser Geleitzüge befanden sich Männer, Frauen und Kinder, die das spanisch-portugiesische Kolonialreich mit ausbauen sollten. Aber Florindas Vater hätte es zu verhindern gewußt, daß sich seine Tochter an Bord eines solchen Seglers begab. Die Ausreise aus Spanien hatte nur heimlich geschehen können, es war der einzige Weg gewesen.
Florinda hob den Kopf.
Schritte näherten sich dem Kabelgatt, langsame, etwas schlurfende Schritte. Gelbliches dämmriges Licht drang durch die Ritzen des Schotts. Jemand näherte sich mit einer Öllampe und verhielt direkt vor dem Schott.
Florinda wollte den Namen ihres Geliebten aussprechen, bremste sich aber im letzten Moment. Diese Schritte, diese schleppende Gangart! Unmöglich konnte es sich um Andrés handeln, es sei denn, er wollte ihr einen Streich spielen.
Florinda wartete nicht, bis der Besucher mit der Lampe das Schott aufgeriegelt hatte. Sie erhob sich, schlich durch das Dunkel, tastete sich an Taurollen und zusammengelegten Tampen vorbei und über sie hinweg und erreichte eine große Seekiste, in der nach Auskunft von Andrés Belegnägel, Marlspieker, Blöcke und anderes Rüst- und Handwerkszeug der Besatzung verstaut waren. Das Mädchen hockte sich hinter die Kiste, mit dem Rükken zur Wand.
Sie hielt den Atem an, als aufgeriegelt wurde und das Schott sich knarrend öffnete. Im Lichtschein der Öllampe erschienen die Gestalt und das Gesicht eines Mannes. Florinda spähte nur kurz über den Kistendekkel, dann zog sie den Kopf wieder ein. Sie hatte genug gesehen. Der Besucher war nicht Andrés, sondern nach den Beschreibungen, die er ihr von den wichtigsten Besatzungsmitgliedern gegeben hatte, der Waffenmeister des Schiffes – Luis Benavente.
Was hatte der in dem Kabelgatt zu suchen?
Andrés hatte Florinda ausdrücklich versichert, daß die Männer der „Gran Duque“ das Kabelgatt höchst selten, wahrscheinlich niemals während ihrer Reise aufsuchen würden. Hier lagen sämtliche Verholtrossen und das nicht im Gebrauch befindliche Tauwerk. Es mußte schon ein schweres Wetter über das Schiff hereinbrechen, bei dem etwas von dem laufenden und stehenden Gut beschädigt wurde und man folglich Materialnachschub benötigte. Glücklicherweise war dies bisher nicht der Fall gewesen. Auch mit einem Gefecht, bei dem die Galeone ramponiert werden konnte, war nach Andrés optimistischen Aussagen „absolut nicht zu rechnen“, da die „Gran Duque“ keine wertvolle Ladung führte und daher kein „Fressen“ für Piraten war. Solange oben auf Deck keine Ausbesserungsarbeiten nötig waren, brauchte man also nicht ins Kabelgatt hinunterzusteigen, soviel stand fest.
Was wollte dann dieser Luis Benavente?
Der Waffenmeister war ein großer, schwerer Mann mit breiten Schultern und derben Zügen. Er hielt die Lampe am ausgestreckten Arm vor sich hin, drückte mit der anderen Hand das Schott zu und sah sich aufmerksam um.
Florinda Martinez Barrero hockte wie paralysiert hinter der Seekiste. Sie hatte vorsichtig Luft geschöpft, als Benavente das Schott hinter sich geschlossen hatte. Jetzt, in der Stille, die nur von einem leichten Knarren und Plätschern unterbrochen wurde, hielt sie von neuem den Atem an.
Luis Benavente tat noch einen langen Schritt und stand nun in der Mitte des Raumes. Sein Gesichtsausdruck war halb verkniffen, halb verschlagen. Er hielt auf eine Weise Umschau, die das Mädchen schier zur Verzweiflung brachte. Wieder hatte sie seinen Kopf über den Dekkel der Kiste hinweg sehen können – und eigentlich wunderte es sie, daß er sie noch nicht entdeckt hatte.
Die Öllampe schien ihn ein wenig zu blenden. Anders konnte sie es sich jedenfalls nicht erklären.
„Komm ’raus!“ sagte er plötzlich.
Sie fühlte, wie sich ihr Herz zusammenkrampfte. Ihre schlimmste Ahnung war zur Gewißheit geworden. Benavente war nicht aus purem Zufall hier aufgetaucht. Irgendwie mußte er etwas in Erfahrung gebracht haben – oder der Kapitän José Manuel Ramos selbst hatte Andrés’ Geheimnis aufgedeckt und schickte nun einen seiner Männer, um nach dem Rechten sehen zu lassen.
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