Nur – wie dieses Fortbewegen zu steuern war, davon verstanden die Timucuas nichts, noch nicht. Jetzt hing alles davon ab, ob die fünf Gefangenen bereit waren, ihnen zu helfen. Sie waren aus einem fernen Land über das große Wasser an die Küste der Timucuas gesegelt, also mußte ihnen der Umgang mit dem Schiff – sie nannten es Segeln – vertraut sein.
Shawanos Blick richtete sich auf die fünf Spanier, die mit gefesselten Händen auf dem Achterdeck standen, umringt von einigen Kriegern, die sich aus der Waffenkammer der Siedlung mit kurzen und langen Feuerrohren, mit Degen und Säbeln, Messern und Äxten versorgt hatten. Natürlich hatte Shawano auch Proviant und Trinkwasser an Bord schaffen lassen.
„Wollt ihr uns helfen?“ fragte Shawano ruhig. Er hatte genug Spanisch gelernt, um sich verständigen zu können. „Wir wollen diese Küste verlassen und ein neues Land für uns suchen – ein Land, wo keine Sümpfe sind und wir in Frieden leben können, in Frieden und in Freiheit.“
Sie hatten auf die Planken gestarrt und hoben jetzt die Köpfe. Deutliche Überraschung lag auf ihren Gesichtern, aber auch Mißtrauen.
Einer von ihnen, ein schlanker und kräftiger Mann mit einem energischen Gesicht – er hieß Marcos –, sagte: „Und wenn wir euch nicht helfen?“
In Shawanos Stimme klang verhaltener Zorn auf. „Euer Kommandant hatte geplant, die Kranken meines Stammes in den Stunden des neuen Tages zu ermorden. Er behauptete, sie hätten die Absicht, auch die Weißen anzustecken und zu vernichten. Dabei weiß jeder Timucua, daß das Fieber aus den Sümpfen kommt, aber nicht von dem einen auf den anderen übertragen wird. Es war ein wahnsinniger Plan, denn das Fieber hätte auch ohne die Ermordeten weiter gewütet. Man kann ihm nur entgehen, wenn man die Sümpfe verläßt. Gut, wenn ihr uns nicht helfen wollt, dann bleibt hier. Das Fieber wird auch euch packen und töten. Ihr habt die Wahl.“
„Bleiben wir eure Gefangenen?“ fragte Marcos.
„Wir sind keine Spanier!“ sagte Shawano scharf. „Und wir haben nicht die Absicht, jemanden zu unterdrücken, auszupeitschen, zu quälen oder zu mißbrauchen.“
Marcos preßte für einen Moment die Lippen zusammen, und sein Gesicht rötete sich.
Dann sagte er: „Ich habe verstanden. Gut, ich bin bereit, euch zu helfen. Ihr sollt erfahren, daß es auch andere Spanier gibt, obwohl ihr hättet merken müssen, daß wir nie gegen euch waren.“
Shawano lächelte flüchtig. „Wir wußten es, und darum seid ihr auch noch am Leben. Ich befahl, euch zu schonen, gebe aber zu, daß dies auch in der Absicht geschah, eure Erfahrungen für uns zu nutzen. Denn wir verstehen nichts vom Segeln. Wir sind auf eure Hilfe angewiesen. Trotzdem würden wir es allein versuchen, wenn ihr euch weigern solltet. Wie entscheiden sich deine vier Kameraden?“
Sie hießen Rafael, José, Domingo und Mariano und erklärten wie Marcos, den Timucuas helfen zu wollen. Innerlich atmete Shawano auf. Er war sich nicht sicher gewesen, ob die Spanier auf seinen Wunsch eingehen würden. Jetzt würde man einander vertrauen müssen. Dennoch war sich Shawano darüber im klaren, daß überhaupt nichts selbstverständlich war. Die Weißen hatten eine andere Denkart als die Timucuas. Er, Shawano, würde die fünf Spanier im Auge behalten – falls sie versuchen sollten, die Timucuas zu hintergehen.
Shawano befahl seinen Kriegern, die Fesseln der fünf Männer zu lösen.
Marcos rieb sich die Handgelenke und fragte: „Habt ihr eine Vorstellung, wohin ihr segeln wollt?“
„In Richtung des Sonnenuntergangs“, sagte Shawano bedächtig. „Von den Alten wissen wir, daß im Norden immer Land sein wird, ebenso soll weit in Richtung der untergehenden Sonne Land sein, dahinter aber wieder das große Wasser bis zur Unendlichkeit.“ Er lächelte verhalten. „Wir werden sehen, wohin uns die Windgötter leiten. Was würdest du vorschlagen?“
Marcos blickte den alten Häuptling offen an und erwiderte: „Im Norden, wo immer Land ist, könnten wir meinen Leuten begegnen, Shawano. Sie haben dort Stützpunkte wie in der Waccasassa Bay. Ich nehme an, daß du nicht die Absicht hast, sie zu treffen. Sie würden auch merken, daß du ein Schiff segelst, was dir nicht gehört.“
„Das Schiff wurde von den Timucuas erbaut“, sagte Shawano. „Das Holz, aus dem es ist, gehört niemandem, aber dennoch mehr den Timucuas als den Spaniern, weil wir hier leben, seit wir denken können. Ihr seid Fremde, die niemand gerufen hat. Dennoch tut ihr, als gehöre euch alles. Das einzige, was euch an dem Schiff gehört, sind die Segel, die Taue, die Nägel und die Feuerrohre. Wir haben kein schlechtes Gewissen, wenn wir sagen, daß dieses Schiff uns gehört. Aber es ist wohl zwecklos, daß wir uns jetzt darüber unterhalten. Du hast recht, wir wollen deinen Leuten nicht begegnen. Wir wollen unseren Frieden haben.“
„Dann ist es richtig, nach Westen in Richtung der untergehenden Sonne zu segeln“, sagte Marcos. Er nickte entschlossen. „Gut, dann sollten wir jetzt die Leinen loswerfen und die Segel setzen. Ich werde das Ruder übernehmen.“ Er drehte sich zu seinen vier Gefährten um. „Ihr müßt ihnen jetzt zeigen, was alles zu tun ist, um segelklar zu sein. Sie wissen es nicht, aber sie werden es lernen. Und ich glaube, sie werden schnell lernen. Nehmt euch vier, fünf Männer jeweils mit, wenn ihr zu den Rahen aufentert. Laßt nichts aus, was sie wissen müssen. Denkt daran, daß wir in einen Sturm geraten können, bei dem sie mitanpacken müssen, wenn wir alle überleben wollen. Sie müssen lernen, lernen, lernen – und ihr seid die Lehrmeister.“ Etwas leiser fügte er hinzu: „Ich halte das für eine gute Aufgabe, für sie etwas tun zu können. Und vergeßt nicht, daß wir eine Schuld abzutragen haben. Sie wurden von Baquillo und seiner verdammten Bande wie Tiere behandelt.“
Die vier Männer nickten. Sie waren ähnlicher Ansicht wie Marcos. Und sie hatten inzwischen aus den Worten des alten Häuptlings gespürt, daß er es ihnen gegenüber ehrlich meinte. Nein, er wollte sich keine Feinde schaffen, er wollte Freunde haben. So riefen sie den Kriegern zu, ihnen zu folgen. Sie verteilten sich über das Schiff, jeder mit einer Gruppe indianischer Männer um sich, und sie begannen zu erklären, zu zeigen, zu demonstrieren.
Eine halbe Stunde später glitt die „San Donato“, ein spanisches Schiff – nach Meinung der Spanier –, aber bemannt von indianischen Menschen, aus der Waccasassa-Bucht. Nur Fock und Besan waren gesetzt, das genügte zum Auslaufen und zum Manövrieren. Außerdem wollte Marcos nichts überstürzen. Die Galeone Ring auf Westkurs und verschwand im Dunkel der Nacht.
Am Morgen des 13. September huschten – bildlich gesprochen – die Ratten aus ihren Löchern. Die Ratten, das waren Don Angelo Baquillo und die vier letzten Männer seines Stabes, von dem einer in der Nacht spurlos im Sumpf verschwunden und ein zweiter von einer Giftschlange ins Jenseits befördert worden war.
Don Angelo Baquillos Kommentar dazu hatte gelautet, daß er sowieso der Ansicht gewesen wäre, nur die Starken hätten ein Anrecht darauf, zu überleben. Bei den beiden hätte es sich um komplette Idioten gehandelt, denen man nicht nachzutrauern brauche.
Als sie sichernd die Siedlung betraten, rümpfte Don Angelo Baquillo verächtlich die Nase. Seiner Meinung nach waren auch die gefallenen Soldaten zu den Idioten zu zählen. Sie hätten eben besser kämpfen müssen, dann wären sie noch am Leben – basta!
Was der Kommandant allerdings absolut nicht begriff, das war die Tatsache, wie es diesen dummen indianischen Bastarden hatte gelingen können, mit der „San Donato“ die Bucht zu verlassen. Das grenzte ja an Teufelswerk! Sie hatten, versteckt in den Sümpfen, das Auslaufen beobachtet. Waren da Verräter mit am Werk gewesen?
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