Der Kapitän brüllte laute Kommandos, während sein Schiff achteraus zurückblieb.
„Bravo, Ferris!“ rief Edwin Carberry und hieb dem Schiffszimmermann die Pranken auf die Schulter. „Jetzt können sich die Seegurken die Seelen aus dem Leib lenzen. Hoffentlich kriegen sie nasse Füße bis hoch zum Hals!“
Auch der Seewolf klopfte Ferris Tucker anerkennend auf die Schulter, zumal bereits die ersten Polen über Bord sprangen. Offenbar wurde man der Lecks doch nicht mehr Herr.
„Schon gut“, brummte der rothaarige Riese und schnitt ein verbiestertes Gesicht. „Ich kann mir trotzdem nicht erklären, warum nur zwei Flaschen gezündet haben. Genaugenommen hätte es diesen Torfkahn in Stücke reißen müssen.“
„Jetzt halte aber die Luft an“, sagte Hasard. „Zwei Treffer sind schließlich auch was. Oder vielleicht nicht?“
„Hh“, stieß Ferris hervor und kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf. „Die Blindgänger wurmen mich trotzdem.“
Der Seewolf grinste.
„Hoffentlich hebt sich deine Laune wieder, wenn der Kasten auf Grund geht.
Was die Blindgänger betrifft, gibt es eigentlich nur zwei Möglichkeiten, die die Zündung verhindert haben.“
„Welche?“ fragte Ferris interessiert.
„Nun“, fuhr Hasard fort, „entweder befand sich bei ihnen der Zündfunke noch außerhalb der Flasche und wurde daher beim Eintauchen gelöscht, oder der Flaschenhals war nicht dicht genug, so daß Wasser eindringen konnte, das gleichfalls den Funken in der Lunte erstickte und die Pulverladung unter Wasser setzte. Vielleicht sollten wir auf diesem Gebiet noch etwas experimentieren. Aber Grund zur Zufriedenheit haben wir auf alle Fälle.“
„Experimente sind immer gut“, mischte sich Old Donegal ein. „Man könnte ja dem Kutscher mal eine Flasche in die Suppe stecken. Wenn sie zündet, kann er die Erbsen hinterher von der Decke schaben.“
„Was anderes fällt dir wohl auch nicht ein, wie?“ fragte Ferris und warf dem Alten einen finsteren Blick zu.
Doch Old Donegal kicherte.
„Wenigstens weißt du dann, daß der Flaschenhals dicht war, und der Funke nicht in der Erbsensuppe ersoffen ist.“
Nun wurde die Aufmerksamkeit der Männer wieder auf die Galeere gelenkt. Dort waren mittlerweile auch noch die letzten Polen von Bord gegangen, und zwar in panikartiger Hast. Dazu hatten sie auch allen Grund.
Die Galeere krängte stark nach Backbord und ging langsam auf Tiefe. Verschiedene Brände, die durch die Pfeile der Seewölfe aufgeflackert waren, erloschen mit lauten Zischen, als die Decks vom Wasser überspült wurden.
„Alles hat auch seine Vorteile“, stellte der Profos sachkundig fest. „Die Kerle brauchen jetzt nicht mehr zu lenzen, und das Löschen der Feuerchen können sie sich ebenfalls sparen. Und dafür sagen die nicht einmal dankeschön!“
Den restlichen drei Galeeren des ehemaligen Fünferverbandes schien jegliche Angriffslust verlorengegangen zu sein. Vielleicht hielten auch sie die merkwürdigen Explosionen unter Wasser für Teufelswerk. Jedenfalls stellten sie die Verfolgung der beiden Galeonen ein und verschwanden bald darauf hinter der achteren Kimm.
Langsam, Schritt für Schritt, stapfte der ärmlich gekleidete Mann durch den mit Tang überhäuften Sand. Dabei hielt er sich immer dicht ans Wasser, seine Füße wurden mitunter durch die Ausläufer der Brandung überspült.
Das kantige und wettergegerbte Gesicht des Mannes wirkte ernst und angespannt. In seinem Gang lag ein Anflug von Nervosität. Von Zeit zu Zeit verharrte er und sicherte scheu wie ein Tier, dem der Jäger auf der Spur ist, nach allen Seiten. Hin und wieder bückte er sich und hob etwas auf. Nachdem er es kurz in Augenschein genommen hatte, ließ er es in dem derben Jutesack verschwinden, den er über der linken Schulter trug.
Jetzt, im Morgengrauen des 2. April 1593, erinnerte nicht mehr viel an den heftigen, auflandigen Sturm, der während der Nacht getobt hatte und wie ein Inferno über die samländische Westküste hinweggebraust war.
Vorbei war das Heulen und Pfeifen des Windes, vorbei das Tosen der Brandung und das Aufspritzen der Gischt. Die See hatte sich wieder beruhigt, die schwarzen Sturmwolken waren verschwunden, als hätte es sie nie gegeben. Die Sonne schob sich wie ein riesiger roter Ball am Horizont hoch und schickte sich an, die letzten grauen Dunstschwaden, die wie zerfetzte Tücher über der Wasserfläche schwebten, aufzulösen.
Fritz Strakuweit, so hieß der Mann, der den Strand absuchte, stammte aus dem kleinen Küstenort Palmnicken. Und er war auf der Suche nach Bernstein, jenem versteinerten Harz von Nadelbäumen längst vergangener Zeiten, das man auch das Gold der Ostsee nannte.
Der Sturm der vergangenen Nacht hatte ihn veranlaßt, schon im ersten Morgengrauen auf Bernsteinsuche zu gehen, denn gerade nach solchen auflandigen Stürmen gab es oft reiche Beute. Die Brandung hatte erhebliche Mengen „Kraut“, wie der Tang von den Einheimischen genannt wurde, von dem verhältnismäßig flachen Meeresgrund losgerissen und auf die Küste zugetrieben.
Ganze Tanginseln schwabberten an der Küste oder lagen bereits am Strand – bereit zum „Abernten“, denn man brauchte den Bernstein nur aus dem Seetang zu lesen.
Strakuweit war sich dennoch im klaren darüber, daß es eine recht gefährliche Arbeit war, die er da tat, denn die Bernsteine waren nach Meinung der Obrigkeit nicht zur Bereicherung des gewöhnlichen Volkes bestimmt. Sie standen ausschließlich dem Landesherrn zu, der seinerseits wiederum dem polnischen König abgabepflichtig war. Also führte man überall scharfe Kontrollen durch.
Wurde ein Einheimischer beim Abernten von Bernstein erwischt, dann war ihm das Bernsteingericht in Fischhausen sicher. Ein Sack voll genügte, um an einem der zahlreichen Galgen, die man für diesen Zweck an der Küste aufgestellt hatte, gehängt zu werden.
Der Morgenwind pfiff kalt über die flachen Küstenstriche. Der Mann fröstelte in seiner dünnen, an zahlreichen Stellen geflickten Kleidung. Aber seine graublauen Augen glänzten erregt, wenn er das „Gold der Ostsee“ im Tang schimmern sah.
Trotz seiner Wachsamkeit hatte Fritz Strakuweit noch nicht bemerkt, daß er bereits seit einer Weile beobachtet wurde. Drei Augenpaare verfolgten jede seiner Bewegungen, und zwar von der Deckung des dornigen Strauchwerks aus, das sich oberhalb der Küste hinzog.
Die drei Soldaten, die dort kauerten, ließen sich Zeit für ihren Zugriff. Sie konnten von ihrem Versteck aus einen weiten Teil der Küste überblicken, der Bernsteindieb konnte ihnen nicht entwischen. Sollte er nur erst seinen Sack vollsammeln, dann würde sich ihr Zupacken wenigstens lohnen.
Jedesmal, wenn sich die einsame Gestalt am Strand bückte, um etwas aufzuheben, grinsten sich die drei Burschen an. Es würde nicht mehr lange dauern, bis der Sack, den der Mann mit sich herumschleppte, prall gefüllt war. Sie hatten Zeit, und immer, wenn der Bernsteinsammler weiterstapfte, zogen sie in der Dekkung der kahlen Sträucher und Sanddünen mit ihm – wie unsichtbare Schatten.
Dabei paßten sie genau jene Momente ab, in denen der Mann verhielt, um seine Blicke prüfend über den Strand wandern zu lassen. Sie zogen stets rechtzeitig die Köpfe ein und rührten sich nicht. Der Kerl in den zerschlissenen Hosen sollte ruhig das Gefühl haben, der einzige Mensch weit und breit zu sein.
Fritz Strakuweit bemerkte tatsächlich nicht, wie sich langsam, aber sicher, das Unheil über ihm zusammenbraute.
Als er nach Ablauf einer guten halben Stunde eine kleine Bucht erreichte, war der Jutesack so gut wie voll. Die Steine lasteten schwer auf seiner Schulter. Eigentlich wollte Strakuweit seine Sammlertätigkeit jetzt einstellen, um sich so rasch wie möglich über Schleichwege nach Palmnicken zurückzuziehen. Doch da wurde er von neuen Funden abgelenkt.
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