Auf der „Isabella“ hatte Ben Brighton das Kommando übernommen. Er würde den Männern – falls sich die düsteren Ahnungen des alten O’Flynn wider Erwarten bewahrheiten sollten – entsprechenden Feuerschutz geben.
Auch auf der „Wappen von Kolberg“ hatte man aufgrund der Signale die Gestalt bemerkt, die sich erfolglos bemühte, aufzustehen. Arne von Manteuffel ließ ebenfalls ein Boot abfieren und zum Strand hinüberpullen.
Bald konnten die Seewölfe die Gestalt als einen Mann in zerschlissener Kleidung identifizieren. Sie waren höchstens noch eine Kabellänge vom Strand entfernt.
„Er rührt sich nicht mehr“, sagte Hasard, der den Kieker ans Auge gesetzt hatte. „Wahrscheinlich ist er wieder ohnmächtig geworden. Kopf und Kleidung sind blutverschmiert.“
Wenig später gingen die Seewölfe an Land. Der Kutscher ging sofort daran, den besinnungslosen Mann zu untersuchen.
„Er hat eine schlimme Schädelverletzung“, stellte er fest. „Ein Wunder, daß der überhaupt noch am Leben ist. Es muß sich um einen außerordentlich zähen Burschen handeln.“
„Ist es eine Schußverletzung?“ fragte Hasard.
Der Kutscher schüttelte den Kopf.
„Danach sieht es nicht aus. Ich vermute eher, daß man ihn mit einem schweren Schlaginstrument bearbeitet hat. Er muß viel Blut verloren haben. Hier kann ich kaum etwas für ihn tun. Wenn er am Leben bleiben soll, müßten wir ihn schon mit an Bord nehmen.“
„Das geht in Ordnung“, sagte Hasard. „Wir können ihn ja hier nicht liegen lassen.“ Gleichzeitig bückte er sich und hob ein faustgroßes, abgeschliffenes Stück Bernstein auf. Nachdenklich betrachtete er den wertvollen Fund, der zudem noch zahlreiche Insekteneinschlüsse aufwies.
„Hat man ihn damit niedergeschlagen?“ fragte Nils Larsen.
„Mit Sicherheit nicht“, erwiderte Hasard. „Sonst würde man zumindest Blutspuren an dem Stein finden. Ich vermute eher, daß dieses Stück während des Kampfes, der hier ohne Zweifel stattgefunden hat, verlorenging. Wie der Sand hier umgewühlt ist, muß sich einiges getan haben.“
Nun traf Batuti, der den Strand ein Stück abgegangen war, wieder bei der kleinen Gruppe ein.
„Es gibt Spuren“, berichtete er. „Ein Mann muß eine ziemlich weite Strecke den Strand entlanggegangen sein. Zwischendurch ist er immer wieder stehengeblieben, besonders bei den Tanginseln. Dort ist nämlich gewühlt worden, das hat Batuti deutlich gesehen.“
„Vielleicht hat er nach Bernstein gesucht“, sagte der Kutscher. „Das soll ja mit dem Tang an Land treiben.“
„Das ist möglich“, sagte Hasard. „Und er hat zumindest diesen einen Brokken hier gefunden.“
„Batuti sieht noch weitere Spuren“, fuhr der Gambia-Mann fort. Dabei deutete er auf Eindrücke, die sich bis zum Fundort des Schwerverletzten hinzogen. „Es müssen drei andere Männer hiergewesen sein. Einer näherte sich aus Norden, einer aus Osten und einer aus Süden. Aber alle drei müssen sich nach Osten entfernt haben, und zwar gemeinsam. Vorher aber ist hier gekämpft worden.“
Hasard war der Meinung, daß Batuti die Vorgänge ziemlich klar umrissen hatte. Schließlich war der schwarze Herkules ein hervorragender Spurenleser.
„Damit steht zumindest fest“, sagte der Seewolf, „daß man diesen Mann hier überfallen und zusammengeschlagen hat.“
Arne von Manteuffel und vier seiner Männer sprangen in das seichte Wasser und zogen ihr Boot auf den Sand. Mit raschen Schritten näherten sie sich der kleinen Seewölfe-Crew.
Arne machte eine entschuldigende Geste.
„Gut, daß ihr den armen Teufel bemerkt habt“, sagte er. „Unser Ausguck hat ihn nicht gesehen.“
„Bei uns wurde er auch nur durch Zufall entdeckt“, erwiderte Hasard. „Wir werden ihn mit an Bord nehmen, damit ihn der Kutscher richtig verarzten kann.“
„Demnach lebt er noch“, sagte der große, breitschultrige Deutsche, der dem Seewolf bis auf die Haarfarbe so ähnlich war. Er trat näher und ging in die Hocke, um sich den Verletzten etwas genauer anzusehen.
Kaum hatten seine Blicke die ärmlich gekleidete Gestalt mit dem blutverkrusteten Gesicht gestreift, fuhr er wieder hoch.
„Das gibt es doch nicht!“ stieß er hervor. „So viele Zufälle auf einem Haufen kann es doch gar nicht geben!“
Hasard und die übrigen Männer sahen ihn verwundert an.
„Kennst du den Mann etwa?“ fragte der Seewolf.
Arne fuhr sich mit der Hand durch die blonde Haarmähne.
„Ja und nein“, erwiderte er. „Ich kenne zwar seinen Namen nicht, aber ich habe ihn vor etwa einem Jahr in Pillau gesehen, und zwar bei einem Bernsteinhändler, der die Steine auch drechselt und schleift. Der Händler sagte mir damals im Vertrauen, dieser Mann wäre einer seiner besten Zulieferer. Sonst aber würde er sein Dasein als Fischer in Palmnicken fristen.“
„Das ist ja interessant!“ entfuhr es Hasard. „Dann liegen wir mit unseren bisherigen Vermutungen und Feststellungen gar nicht so verkehrt.“ Mit wenigen Worten schilderte er Arne die verschiedenen Fußspuren, die Batuti ausgewertet hatte, und erläuterte ihm die Schlußfolgerungen, die sich daraus ergaben.
„Das paßt alles genau zusammen“, meinte Arne von Manteuffel. „Der Sturm der vergangenen Nacht hat viel Tang hier angeschwemmt und damit auch Bernstein. Aus diesem Grund wohl war der Fischer hier unterwegs gewesen. Man hat ihn überfallen, halbtot geschlagen und ihm den gesammelten Bernstein geraubt, denn außer dem einen Stück, das man wahrscheinlich übersehen hat, ist ja nichts da.“
Hasard nickte.
„Die Räuber müssen ihn für tot gehalten haben, und das war sein Glück – je nachdem, wie man das sieht. Wie stehen seine Chancen, Kutscher?“
„Die Verletzungen sind ernst, aber nicht hoffnungslos“, antwortete der Feldscher der „Isabella“. „Ich nehme an, daß ich ihn durchkriege, aber versprechen kann ich das natürlich nicht.“
Hasard und Arne beschlossen, vorerst noch vor Anker zu bleiben und abzuwarten, was der Mann zu berichten hatte, wenn er ins Bewußtsein zurückkehrte. Dann würde man weitersehen.
Zunächst aber brachte man den Schwerverletzten vorsichtig in die Jolle der Seewölfe und bettete ihn zwischen die Duchten. Dann wurde das Boot eilig zurückgepullt.
Old O’Flynn zog ein griesgrämiges Gesicht, als die Jollen-Crew an Bord zurückkehrte und den Verletzten in den Krankenraum transportierte.
„Dir paßt es wohl nicht, daß keine Rübenschweine hinter den Sanddünen gelauert haben, was, wie?“ fragte der Profos. „Es wäre dir wohl lieber gewesen, wenn uns irgendwelche Kerle ins Genick gesprungen wären. Dann könntest du wenigstens sagen: ‚Ich, Mister Donegal Daniel O’Flynn, habe es ja gleich gewußt, aber ihr Hurenböcke habt ja nicht auf mich gehört!‘ Gib’s doch zu, Donegal, ich kenne dich!“
„Ha!“ sagte der Alte verbiestert. „Du und mich kennen, daß ich nicht lache! Und bilde dir nur nicht ein, daß ich mich geirrt habe! Auch wenn bis jetzt noch nichts geschehen ist – es ist noch lange nicht aller Tage Abend. Das dicke Ende folgt schon noch, darauf kannst du dich verlassen!“
„Juckt dich vielleicht das Holzbein?“ fragte Ed treuherzig.
„Heute nicht“, sagte Old Donegal beinahe würdevoll. „Aber ich werde dennoch das verdammte Gefühl nicht los, daß es in dieser Gegend Ärger gibt. Und zwar im Zusammenhang mit diesem – äh – mit diesem Fremden, den ihr an Bord gebracht habt.“
„Du bist heute wieder ein richtiger Schwarzmaler“, sagte der Profos. „Der arme Wicht, an dem sich jetzt der Kutscher und Mac Pellew austoben, wird uns bestimmt keinen Ärger bereiten. Der ist froh, wenn er dem Sensemann noch mal von der Schippe springen kann. Irgendwelche Rübenschweine haben ihm wegen der Klunkerchen, die angeblich mit dem Tang an den Strand gespült werden, was über den Scheitel gegeben.“
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