„Ja, ja“, sinnierte Old O’Flynn. „Die Gier nach Gold und Geld, nach Macht und Reichtum hat schon immer Ärger und Unglück gebracht. Darüber war ich mir schon damals auf der alten ‚Empress of Sea‘ im klaren, und ich kann dir nur sagen …“
„Schon gut, Donegal“, sagte der Profos. „Jetzt fang nur nicht wieder bei der Arche Noahs und der Sintflut an. Ich weiß schon, daß du damals als Erster Offizier auf der Arche gefahren bist. Und die Sintflut hat Noah nur überlebt, weil er auf dich gehört hat!“
„Witzbold!“ knurrte Old Donegal und marschierte beleidigt über die Kuhl. Bis zum Ablauf des Stundenglases war der Profos Luft für ihn, das stand jetzt schon fest. Aber spätestens dann würden sie wieder ein Herz und eine Seele sein und zusammenhalten wie Pech und Schwefel.
Zu allem Überfluß landete jetzt auch noch Sir John auf dem Handlauf des Schanzkleides.
„Ziegenkäse, Hafenratten, Töpfegucker!“ krakeelte er zusammenhanglos.
Der alte O’Flynn drehte sich um und warf dem Papagei einen wütenden Blick zu.
„Jetzt fang du nur auch noch an, du Mistvieh!“ rief er. „Aber bei einem solchen Holzkopf von einem Herrchen kann man ja nichts anderes erwarten, nicht wahr?“
Wieder war es Gary Andrews, der hagere Fockmastgast, der die Männer auf den Decks auf eine merkwürdige Begebenheit hinwies.
„Am Strand tauchen eine Menge Leute auf!“ rief er. „Alle aus südlicher Richtung!“
Gleich darauf sahen auch die übrigen Seewölfe jene seltsame Prozession, die sich dicht am Wasser entlangbewegte. Bei dem, was sich in der nächsten Zeit ihren Augen darbot, kamen sie aus dem Kopfschütteln nicht mehr heraus.
Die morgendlichen Dunstschwaden hatten sich verzogen, die Sonnenstrahlen ließen die kabbeligen Küstengewässer silbrig aufglänzen. Der Wind wehte noch immer aus Westen und ließ die beiden Galeonen an den Ankertrossen schwojen. Alles in allem bot dieser Morgen an der samländischen Bernsteinküste ein Bild des Friedens.
Dieser Eindruck wurde jedoch durch das, was am Strand geschah, jäh zerstört.
Eine Schar von Menschen zog langsam durch den weichen Sand, und zwar so, als müßte sie Tausende von Erbsen aufsammeln, die jemand in der Nacht ausgestreut hatte. Wie die Seewölfe rasch feststellten, befanden sich auch Frauen und Kinder bei jener morgendlichen Prozession. Und sie brauchten natürlich nicht lange herumzurätseln, um zu wissen, was dort geschah.
Die Menschen sammelten Bernstein, besser gesagt, sie mußten Bernstein sammeln, denn die ärmlich gekleideten Männer, Frauen und Kinder waren nicht allein, sondern wurden von einer doppelten Anzahl Uniformierter umgeben, die, wie deutlich zu erkennen war, sogar Peitschen schwangen. Von ihren Pferden aus hielten sie die Menge auf Trab.
Das Bernsteinsammeln erfolgte demnach unter Zwang und Bewachung, und der Erlös floß logischerweise nicht in die Taschen der armen Küstenbevölkerung, sondern in die Kassen jener Leute, die niemals kennengelernt hatten, was Hunger bedeutete.
„Das dürften schätzungsweise fünfundzwanzig Leute sein“, sagte Hasard. „Hinzu kommen ungefähr sechzig Soldaten. Das ist nicht zu fassen!“
Edwin Carberry warf dem alten O’Flynn einen verstohlenen Blick zu, doch der hob würdevoll die Nase, als müsse er mit ihr die Windrichtung feststellen.
„Die Leute sind ja wirklich beschissen dran“, meinte der Profos dann. „Dabei könnten diese Rübenschweine von Soldaten doppelt soviel Arbeit leisten als diese Schar zerlumpter Gestalten, wenn sie sich nur erst von ihren verlausten Ziegenbökken schwingen würden. Aber das haben diese im Suff gezeugten Hurensöhne natürlich nicht nötig. Das Schwingen der Peitschen ist da viel bequemer.“ Zu Hasard gewandt, fuhr er fort: „Sir, ich kann mir nicht helfen, aber wenn ich das sehe, da kribbelt es mir so merkwürdig in den Händen.“
Hasard zuckte mit den Schultern.
„Zu deiner Beruhigung, Ed, bei mir kribbelt es da auch, aber daran ist meines Wissens noch niemand gestorben. Das legt sich auch wieder.“
„Bei mir aber nicht, Sir“, sagte Carberry. „Ich brauche da meistens ein bißchen Bewegung, um dieses elende Gefühl wieder loszukriegen. Ob das eine Krankheit ist, was, wie?“
„Wie man’s nimmt, Ed“, entgegnete Hasard hinterhältig. „Die stinkende, schwarze Salbe, die der Kutscher zubereitet hat, soll dagegen schon geholfen haben. Man muß nur beide Hände bis an die Ellbogen hineinstecken.“
„Gott bewahre mich!“ entfuhr es dem Profos. „Von dieser Stinkschmiere dampft mir jetzt noch die Nase, wenn ich nur an die Zeit in der Krankenkammer zurückdenke. Du wirst mich doch nicht dem Kutscher ausliefern wollen, was, wie?“
„Das hängt ganz davon ab, wie lange das Kribbeln anhält, Ed. Aber vielleicht finden wir auch noch eine andere Möglichkeit, es wieder loszuwerden.“
Edwin Carberry atmete auf.
„Ganz bestimmt, Sir, davon bin ich überzeugt!“ Er rieb sich unternehmungslustig die riesigen Pranken.
Der Seewolf hatte durchaus Verständnis dafür, daß seinen Männern die Wut hochstieg, wenn sie das brutale, menschenunwürdige Treiben am Strand beobachteten. Schließlich empfand er das auch nicht anders. Aber sie konnten deshalb nicht einfach die Kanonen ausrennen und einige Kugeln in die Menge donnern. Das würde mit Sicherheit unschuldige Menschen, Frauen und Kinder erwischen. Also mußte zunächst die weitere Entwicklung der Dinge abgewartet werden. Zum Glück wurde ja niemand umgebracht, sondern man trieb die Menschenmenge lediglich zur Arbeit an. Zur Zwangsarbeit, versteht sich.
Von der „Wappen von Kolberg“ löste sich ein Boot, Arne von Manteuffel ließ sich zur „Isabella“ übersetzen. Offenbar hatte auch er angesichts dieser Machenschaften das Bedürfnis, sich mit seinem Vetter zu besprechen.
Kurze Zeit später enterte er an Bord und eilte zum Achterdeck. Sein Gesicht wirkte kantig vor Wut.
„Mir juckt es gewaltig in den Fingern“, sagte er und Nils übersetzte.
„So was Ähnliches habe ich heute schon mal gehört“, erwiderte Hasard und warf einen vielsagenden Blick auf seinen Profos.
Dieser nickte eifrig.
„Siehst du, Sir“, sagte er, „diese Krankheit ist sogar ansteckend!“
Arne deutete zum Strand hinüber.
„Das sind polnische Soldaten“, erklärte er, „und der Bernstein, der dort gefunden wird, wandert in die Schatzkammer der polnischen Krone. Die armen Küstenbewohner kriegen nicht den geringsten Lohn für das Einsammeln, sondern werden mit Fußtritten, Peitschenhieben und Knüffen abgespeist.“
Damit übertrieb Arne von Manteuffel nicht, denn auch die Seewölfe beobachteten, wie die Frauen sogar ins Wasser waten mußten, um die noch schwimmenden Tanginseln mit langen Haken an Land zu ziehen. Der Strand wurde regelrecht abgegrast. Bei den Bewachern handelte es sich offensichtlich um brutale, verrohte Kerle, denen es eine sadistische Freude bereitete, Gewalt auszuüben und die ihnen hilflos ausgelieferten Leute zu schikanieren.
Zwei Offiziere ritten lässig hinter dem Haufen her. Ihre Aufgabe war es, darüber zu wachen, daß keiner der armen Menschen heimlich ein Stück Bernstein verschwinden ließ. Die Funde wanderten fein säuberlich in Ledersäcke, mit denen Lastpferde behangen waren.
„Das Bild ist typisch“, knurrte Arne. „Was ihr hier seht, ist ein Teil des sogenannten Bernsteinregals, das der polnische König Sigismund III. für sich beansprucht.“
„Ich verstehe das nicht ganz“, sagte Hasard. „Dieses Land ist doch nicht polnisch, was haben also die Polen hier zu suchen?“
Arne lächelte erbittert.
„Deine Frage ist berechtigt“, erwiderte er. „Doch es gibt da einige Zusammenhänge und Hintergründe, die uns das Treiben dort drüben zumindest in politischer Hinsicht erklären. Das Herzogtum Preußen, zu dem auch das Samland gehört, ist ein Lehen der polnischen Krone an die Herzöge von Preußen. Demnach hat Sigismund III. das Sagen, und wenn er das Bernsteinregal für sich beansprucht, dann hat der Markgraf Georg Friedrich von Brandenburg, der das Herzogtum zur Zeit anstelle seines blödsinnig gewordenen Vetters Albrecht Friedrich von Preußen regiert, nichts dagegen zu vermelden. Würde er gegen diese Machenschaften aufmucken, könnte er schnell das Lehen verlieren. Und das wird er wegen des Bernsteins wohl kaum riskieren wollen.“
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