Vorsichtig öffnete er die Augen eine Spaltbreite, um die Lage zu peilen.
Einer der Polen stand nur wenige Schritte von ihm entfernt. Es war derjenige, der ihn niedergeschlagen hatte. Die beiden anderen, darunter der Hagere, stützten sich, auf ihre Musketen und schickten sich gerade an, den Sack auszuleeren.
Jetzt oder nie! sagte sich Fritz Strakuweit und warf sich trotz der aussichtslosen Lage und der stechenden Nackenschmerzen blitzschnell herum. Es gelang ihm, aufzuspringen. Dann warf er sich mit dem Mut der Verzweiflung auf den Soldaten, der ihm am nächsten stand.
Dieser bemerkte den überraschenden Angriff des Deutschen verhältnismäßig früh und versuchte, seine Muskete herumzureißen und abzufeuern. Doch Strakuweits Hände hatten die Waffe bereits gepackt.
Während ein erbittertes „Tauziehen“ begann, wirbelten die beiden anderen Soldaten herum und brachten ihre Musketen in Anschlag. Aber sie konnten nicht schießen, ohne dabei ihren Genossen zu treffen.
Der Hagere schätzte die Lage sofort richtig ein. Er drehte seine Waffe um und packte sie am Lauf.
„Wir schlagen den Hund tot!“ zischte er wütend. Gleichzeitig stürmte er auf Strakuweit zu, der seinem Gegner gerade einen heftigen Tritt gegen das Schienbein verpasste.
Der Soldat stieß einen lauten Schmerzensschrei aus, verzog sein Gesicht zu einer haßvollen Grimasse und ließ die Muskete reflexartig los.
Doch dieser Sieg nutzte dem Deutschen nichts mehr.
Die beiden anderen Polen erreichten ihn fast gleichzeitig. Dann schlugen sie hart mit den Kolben ihrer Waffen zu.
Strakuweits Hände wurden schlaff und ließen die erbeutete Muskete in den Sand fallen. Aus seinem Mund drang ein gurgelnder Laut, dann sank er blutüberströmt zu Boden. Die beiden Soldaten hatten ihn mit mehreren wuchtigen Hieben am Schädel erwischt, aus einer Platzwunde schoß Blut.
Fritz Strakuweit rührte sich nicht mehr. Sein Körper lag seltsam verkrümmt im Sand, die Augen waren geschlossen.
„Der hat genug“, sagte der Hagere. „Hätte gar nicht gedacht, daß der Kerl so gefährlich ist. Am besten, wir schnappen uns jetzt den Sack und verschwinden von hier. Teilen können wir auch noch woanders.“
„Soll ich ihm noch eine Kugel verpassen?“ fragte derjenige, der von Strakuweit angegriffen worden war.
„Nicht nötig“, erwiderte der Hagere, der noch einen raschen Blick auf den blutüberströmten Deutschen warf. „Der ist mausetot und klaut bestimmt keine Bernsteine mehr!“
Diese Feststellung des beutelüsternen Halunken sollte sich jedoch schon recht bald als folgenschwerer Irrtum erweisen.
Die Ausläufer des nächtlichen Sturms hatten die „Isabella IX.“ und die „Wappen von Kolberg“ stark an die Küste versetzt. Ein Beidrehen der Galeonen war jedoch nicht notwendig geworden, weil man die Segel stark verkürzt hatte, damit sie nicht von den tobenden Naturgewalten in Fetzen gerissen wurden.
Jetzt, am Morgen des 2. April, klüsten die beiden Schiffe wieder unter vollem Zeug an der Küste südwärts und entschieden sich schließlich dafür, bei dem herrschenden Westwind auf Kreuzkurs zu gehen, um quer über die Danziger Bucht zu segeln.
In der Höhe von Palmnicken, einem kleinen, gottverlassenen Küstennest, gingen die Segler auf ihren ersten Kreuzschlag.
Die „Isabella“ hatte gerade mit dem Anluven begonnen und drehte das Heck dem Land zu, da begann sich Gary Andrews, der im Hauptmars Ausguck hielt, zu rühren.
„Deck!“ rief er und drehte mit hastigen Bewegungen an der Optik seines Spektivs. „Am Strand liegt jemand! Sieht aus wie eine Leiche, die angetrieben worden ist. Um ein Haar hätte ich die Gestalt nicht gesehen.“
„Täuschst du dich auch nicht?“ fragte Ben Brighton zurück. „Vielleicht siehst du auch nur einige Tangbündel. Davon dürfte in der vergangenen Nacht genug angeschwemmt worden sein.“
„Nein, es ist eine menschliche Gestalt“, beharrte Gary. „Und ich verschlucke einen Holystone, ohne nachzuspülen, wenn sie sich nicht schwach bewegt! Da – der rechte Arm hat seine Lage verändert! Kein Zweifel, Sir, da ist jemand verletzt!“
Ben Brighton blickte den Seewolf fragend an.
Hasard zuckte mit den Schultern und griff selber nach seinem Spektiv. Wortlos sah er hindurch, dann nickte er.
„Da liegt tatsächlich jemand. Und Bewegungen glaube ich auch erkennen zu können.“
Old Donegal, der alles mitangehört hatte, zog die Stirn in Falten.
„Sir“, sagte er ahnungsvoll, „du wirst doch wohl nicht …?“
„Es wird uns nichts anderes übrigbleiben, Donegal“, antwortete der Seewolf, „das gebietet uns schon die Christenpflicht. Wer immer das auch sein mag, der halbtot dort drüben liegt – er braucht unsere Hilfe!“
„Aber Sir!“ begehrte Old O’Flynn auf. „Du weißt so gut wie ich, daß das ein Trick sein kann. Es wäre nicht das erste Mal, daß man uns mit List und Tücke an einen Strand lockt, um dann über uns herzufallen.“
„Ich weiß, Donegal“, sagte Hasard. „Man hat unsere Hilfsbereitschaft schon oft genug auszunutzen versucht, aber dennoch können wir es nicht verantworten, einen Menschen, der wirklich Hilfe braucht, einfach liegen zu lassen – das geht gegen unsere Prinzipien. Außerdem: Wer soll uns zu dieser Zeit schon am Strand auflauern wollen? Es kann ja niemand gewußt haben, daß uns der Sturm hierher verschlägt. Und zu sehen ist auch niemand.“
Old O’Flynn zeigte ein mißtrauisches Gesicht und fuhr sich durch die Bartstoppeln.
„Ich weiß nicht recht“, murmelte er. „Da könnten beispielsweise Polen hinter den Sanddünen auf der Lauer liegen. Es wäre ja immerhin möglich, daß sie jetzt ihr Glück an Land versuchen, nachdem wir ihnen auf See kräftig die Hucke vollgegeben haben.“
„Diesmal irrst du dich bestimmt“, erwiderte Hasard. „Die Polen konnten nun wirklich nicht wissen, daß wir hier auftauchen. Und wenn die Gestalt dort drüben ein Lockvogel wäre, würde sie sich wesentlich auffälliger benehmen. Es war ohnehin schon reiner Zufall, daß Gary sie überhaupt bemerkt hat.“
Der Alte wiegte zweifelnd den Kopf hin und her.
Da verzog Edwin Carberry das zernarbte Gesicht zu einem freundlichen Lächeln, das freilich nur Eingeweihte als solches zu erkennen vermochten.
„Soll ich dir einen Hocker bringen, Mister O’Flynn, was, wie? Oder vielleicht ein leeres Wasserfaß?“
Old Donegal sah ihn verständnislos an.
„Was, zum Teufel, soll ich damit?“
„Wenn du da draufsteigst“, fuhr der Profos fort, „kannst du besser hinter die Kimm schauen – zumindest aber hinter die Sanddünen! Und wenn du dich dabei noch anstrengst, kannst du den Rübenschweinen, die dort lauern, auf die Köpfe spucken.“
Der alte O’Flynn stieß ein verärgertes Knurren aus.
„Solche Spinnereien sehen dir wieder ähnlich, du quergestreifter Kinderschreck! Aber wenn die Kerle erst einmal über dich herfallen und dir …“
„Laßt es gut sein“, mischte sich Hasard in die sich anbahnende hitzige Diskussion. „Wir wollen den Teufel lieber nicht an die Wand malen und die Zeit mit geistreichen Debatten verbringen, während dort vielleicht ein Mensch hilflos zugrunde geht. Gebt Arne einige Signale – dann wird die kleine Jolle ausgesetzt! Das Kommando übernehme ich. Batuti, Nils, Jan und Ed, ihr begleitet mich. Außerdem soll der Kutscher mit dabeisein, er kann den Zustand des Mannes am besten beurteilen.“
Das war eine klare Entscheidung, und niemand lehnte sich dagegen auf, zumal außer Old Donegal sowieso alle einer Meinung mit Hasard waren, zumindest, was die einsame Gestalt dort drüben am Strand der sogenannten Bernsteinküste betraf.
Die Befehle des Seewolfs wurden sofort weitergegeben. Beide Galeonen geiten die Segel auf und warfen Anker. Kurze Zeit später hielt die kleine Jolle der „Isabella“ bereits auf den Strand zu.
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