Das war also der Grund, warum er Helsingör angelaufen hatte. Was das allerdings zur Folge haben würde, dazu hätte keine noch so verwegene Phantasie ausgereicht, sich das auszumalen, geschweige denn vorauszuahnen.
Der Zufall, dieser windige Bursche, dieser Zauberer und Scharlatan, war mit im Spiel und hatte bereits die Karten gemischt. Den Seewölfen sollten gerade die Haare zu Berge stehen.
Merkwürdig war nur, daß in diesem Fall Old Donegal Daniel O’Flynn total versagte, kein Jucken im Holzbein hatte und auch keinerlei spiritistische Impulse empfing – nichts da.
Er lümmelte gähnend am Schanzkleid, betrachtete die Hafenszenerie und dachte an gar nichts. Nur als der dicke Hafenkapitän eilfertig und schnaufend heranwatschelte, verzog er das wetterharte Gesicht zu einem herablassenden Grinsen.
„Da ist ja unser Dickerchen“, sagte er zu Smoky, der gleich ihm am Schanzkleid lümmelte, sich allerdings nicht für den Hafenkapitän interessierte, sondern in eine andere Richtung peilte, deren Endpunkt ein wohlgerundetes Frauenzimmer war, das hinten über den Kai lustwandelte und dabei sehr hübsch die Hüften schwenkte.
„Wie?“ fragte er desinteressiert und peilte weiter in seine Richtung, wobei er an vieles dachte, was mit runden Formen und dem Paradies zu tun hatte.
„Wo schaust du denn hin?“ sagte Old O’Flynn erbost und wollte noch einiges Moralische hinzufügen, aber Hasards Stimme schnitt dazwischen.
Er sagte, ein bißchen klirrend: „Ist hier vielleicht jemand an Bord, der so freundlich wäre, die Stelling auszubringen? Aber bitte, ich kann’s auch selbst tun, wenn die Gentlemen anderweitig beschäftigt sind.“
Smoky zuckte zusammen, und Edwin Carberry röhrte in altgewohnter Manier los, daß er es bald leid sei, sich von morgens bis abends mit einer verlausten Bande von Tagedieben, Nichtsnutzen, Faulenzern und gesengten Affenärschen herumschinden zu müssen, die dem lieben Gott die Zeit klauten und nur in die Hände spuckten, wenn’s was zu fressen oder zu saufen gäbe.
„Und wer steckt den Anschiß ein?“ brüllte er Smoky an.
„Du, weil du der Profos bist und ein breites Kreuz hast“, sagte Smoky, und weil sich Carberrys Brustkasten wie ein riesiger Blasebalg aufblähte, fügte er hastig hinzu: „Ich muß jetzt die Stelling ausbringen, Ed!“
Und schon flitzte er zur Kuhl, wo Paddy Rogers, Jan Ranse und Luke Morgan bereits die Stelling aus dem Laderaum wuchteten und zum Schanzkleid schleppten.
Carberry öffnete die Pforte und war am Knurren wie eine gereizte Bulldogge.
Ein paar Minuten später konnte der Hafenkapitän über die Stelling an Bord marschieren, lächelnd wie ein Posaunenengel.
„Freunde!“ rief er und breitete die Arme aus, als wolle er alle umarmen. „Daß ihr wieder da seid! Nein, wie ich mich freue!“
Nils Larsen übersetzte grinsend.
Hasard sprang auf die Kuhl hinunter und begrüßte den Dicken. Daß er jetzt wieder lachte, verbuchte der grimmige Profos zu seinen Gunsten. Schließlich war die Stelling ja noch rechtzeitig auf die Pier geschoben worden.
Der Hafenkapitän zwinkerte Hasard listig an.
„Na, war mein Tip für Wisby gut, Kapitän Killigrew?“ fragte er.
Hasard hatte ihn vor zwei Monaten nach einer Bezugsquelle für Bernstein gefragt, und da hatte ihm der Dicke ebenso augenzwinkernd wie jetzt den Namen eines Kaufmanns in Wisby auf Gotland genannt: Jens Johansen.
Hasards Miene verdunkelte sich, nachdem Nils Larsen übersetzt hatte.
„Jens Johansen ist tot“, sagte er, „ermordet.“
Der Dicke starrte ihn bestürzt an. „Ermordet?“
Hasard nickte. „Genau das. Ich wollte Sie in diesem Zusammenhang sowieso sprechen. Die polnische Krone setzt alles daran, den Bernsteinhandel an sich zu reißen. Dabei scheut sie auch nicht vor Mord zurück. Ein anderer Fall passierte in Hapsal oben an der estnischen Westküste. Dort hatte sich ein anderer Bernsteinhändler niedergelassen, ein Däne namens Thorsten Tyndall. Auch er wurde ermordet. Kennen Sie ihn vielleicht oder haben von ihm gehört?“
Jetzt war der Dicke geradezu entsetzt. „Thorsten Tyndall, Sohn von Thor Tyndall? Natürlich kenne ich ihn. Ein feiner Mann. Mein Gott, das sind ja schlimme Nachrichten. Was für eine Welt!“ Er schüttelte fassungslos den Kopf, und seine Augen waren gar nicht mehr listig, sondern sehr betrübt. „Gerüchteweise hörte ich schon davon, daß sich die Polen in den Bernsteinhandel einschalten wollten, was uns Dänen gar nicht recht ist. Daß sie aber dabei Gewalt anwenden, verschlimmert die Sache. Gleich zwei Morde! Diese Unholde!“
„Den Mörder von Thorsten Tyndall haben wir an Bord – als Gefangenen“, sagte Hasard. „Das ist auch der Grund, warum wir Helsingör anliefen, Mister Hornborg. Wir waren der Ansicht, daß er vor ein dänisches Gericht gehört. Darum möchten wir Ihnen diesen Mann übergeben. Selbstverständlich bin ich bereit, daß Sie meine Aussage zu diesem Fall protokollieren, damit die Anklage gegen den Mann erhoben werden kann. Er selbst hat erklärt, im Auftrag der polnischen Krone gehandelt zu haben, was ihn jedoch nach meinem Rechtsempfinden nicht entschuldigt. Aber bitte, das sollen Ihre Richter entscheiden. Übernehmen Sie den Mann?“
„Natürlich, Kapitän Killigrew. Ich werde sofort ein paar Soldaten herbeordern, die ihn in Empfang nehmen können.“
Hasard winkte ab. „Wenn es Ihnen recht ist, besorgen das meine Männer. Wir haben unsere Erfahrungen mit solchen Kerlen. Darum möchte ich Sie auch warnen. Lassen Sie den Mann scharf bewachen, und vergessen Sie nicht: Bei ihm geht es jetzt um Kopf und Kragen. Bei uns hat er bereits einen Ausbruch versucht.“
Der Dicke nickte beklommen.
Hasard wandte sich zu Carberry um: „Ed, hol bitte den Kerl aus der Piek. Nimm Sten und Matt mit. Und seht euch vor. Löst ihm nur die Fußfesseln, verstanden?“
„Alles klar, Sir.“ Carberry winkte Stenmark und Matt Davies zu sich, schnappte sich im Vorbeigehen einen Belegnagel aus der Nagelbank des Großmastes und marschierte mit den beiden ab.
Während Hasard dem Hafenkapitän nähere Einzelheiten über den Mordfall mitteilte – inzwischen war auch Arne von Manteuffel auf der „Isabella“ erschienen und wurde dem Dicken vorgestellt –, suchten Carberry und seine beiden Begleiter die Vorpiek auf und entriegelten das schwere Schott. Matt Davies leuchtete mit einer Öllampe in den miefigen Raum, der an Bord fast aller Schiffe für arme Sünder vorgesehen war. Hier wurden sie gewissermaßen weichgekocht und durften darüber nachdenken, warum sie in diesem Loch hockten.
Dieses Loch war ein Prüfstein. Hier zeigte sich, aus was für einem Holz ein Mann geschnitzt war, aus Hartholz oder aus Weichholz, ob kernig oder morsch.
Witold Woyda, seines Zeichens Generalkapitän in der polnischen Flotte, war morsch. Er blinzelte aus trüben Augen in den Lichtschein, seine Lippen zitterten, in seiner Miene spiegelte sich eine Mischung von Angst, kriechender Unterwürfigkeit und Haß.
Das Äußere dieses Mannes hatte während des Zwangsaufenthaltes in der Vorpiek arg gelitten. Seine aufwendige Kleidung hatte naturgemäß allen Glanz verloren. Der Generalkapitän war zu einem verluderten Landstreicher geworden. Die zottelige, schmutzige Perücke trug zu diesem Eindruck bei. Sie saß verrutscht und schief auf seinem Kopf.
„Jetzt ähnelt er unserem guten alten Plymmie in Plymouth“, sagte Matt Davies, „auch wenn ihm dessen Wabbelkinn fehlt.“
„Beleidige meinen guten Freund Nathaniel Plymson nicht“, knurrte Carberry. „Das ist ein honoriger Mensch gegen diesen Lausekerl.“ Er schabte sich mit dem Daumen das Rammkinn und wurde tiefsinnig. „Wenn ich da an unseren Kapitän denke – damals auf der ‚Marygold‘. Da mußte ich ihn auch mal aus der Vorpiek holen, wo er geschmort hatte. Wißt ihr noch?“
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