„Du machst mich zappelig“, sagte Ludmilla wütend. „Kann man nicht mal ernst mit dir reden? Ist der Mensch tot, meinst du das?“
„Ich sehe nur einen Schatten, ich kann es nicht wissen“, erwiderte der Riese.
„Wir müssen ihm helfen“, sagte das Mädchen. „Das ist unsere Christenpflicht.“
„Wenn er tot ist, kann ihm keiner mehr helfen“, murmelte Ton de Wit.
„Du bist gemein“, sagte sie verärgert. „Gott würde das nicht gern hören.“
Der Riese kratzte sich am Kopf. Er war jetzt richtig verlegen. Wie nun, wenn der Mann im Fluß doch noch am Leben war? Entschlossen stieg Ton de Wit ins Wasser. Der Mann – er konnte ihn jetzt richtig erkennen, denn es trennten sie nur noch höchstens zehn Meter.
Dann schob Ton de Wit seine Arme unter den Reglosen, hob ihn hoch und trug ihn an Land. Der Mann gab kaum hörbare Laute von sich. Seine Augen waren geschlossen, aber sein Herz schlug.
„Er lebt noch“, sagte Ton de Wit.
Ludmilla trat näher.
„Er lag auf dem Rücken im Wasser“, sagte sie. „Das war sein Glück. Sonst wäre er ersoffen.“ Plötzlich weiteten sich ihre Augen. „Den kenne ich! Das ist einer von den Piraten!“
„Ich werfe ihn wieder ins Wasser“, sagte der Riese aufgebracht.
„Nein, das darfst du nicht!“
„Er ist einer von denen, die dir Gewalt antun wollten!“
„Ja, aber in der Bibel steht, daß man auch seinen Feinden helfen soll. Jesus Christus hat das gesagt.“
„Du hast die Bibel ja noch nie gelesen“, sagte der Riese.
„Du vielleicht?“
„Ich weiß mehr darüber als du“, sagte Ton de Wit grollend. „Auge um Auge, Zahn um Zahn, so ist es im Alten Testament niedergeschrieben.“
„Wir fragen Branco Fernan um Rat“, sagte das Mädchen. „Los!“ Sie lud sich den Wasserschlauch auf die Schulter und schritt voran, zurück zum Rastplatz. Ton de Wit hatte keine andere Wahl, er mußte den Piraten zum Lager tragen.
„Was ist denn?“ fragte Branco Fernan. Er sah von seiner Lektüre, der Bibel auf. „Ich habe mich schon gefragt, wo ihr bleibt.“
„Schau mal, wen wir hier haben“, sagte Ludmilla.
Ton de Wit ließ den Flußräuber ziemlich unsanft auf den Boden sinken.
„Er ist einer von denen, die mich gepackt und vom Boot zur Hütte geschleppt haben“, erklärte das Mädchen, als sei das etwas, auf das man stolz sein könne.
„Am liebsten würde ich ihm sämtliche Knochen im Leib brechen“, sagte Ton de Wit. Sein Blick verkündete, daß er es wirklich ernst meinte.
Branco Fernan untersuchte den Mann. Sein Visier klappte dabei dreimal zu. Ludmilla hatte schließlich die Idee, hinter ihn zu treten und das Visier mit beiden Händen festzuhalten.
„Verletzt“, sagte Branco Fernan. „Von mehreren Messerstichen getroffen. Er hat viel Blut verloren.“
„Haben die Kerle sich vielleicht gestritten?“ fragte Ton de Wit.
„Das ist gut möglich“, entgegnete der Ritter. „Ich werde ihn sogleich verbinden. Wenn wir Glück haben, kommt er durch. Die Nacht wird die Entscheidung über sein Leben bringen.“
„Wieso ist das ein Glück, wenn er durchkommt?“ fragte Ton de Wit böse.
Branco Fernan blickte ihn zurechtweisend an. „Vor dem Herrn sind alle Menschen gleich, und selbst der schlimmste Sünder läßt sich bekehren, hast du das vergessen?“
„Nein.“
„Dann hör endlich auf zu meckern“, sagte Ludmilla. Sie hatte bereits angefangen, Wasser für die Säuberung der Wunden vorzubereiten.
Als Güner, der Kurde, am Morgen seine Augen aufschlug, wähnte er sich im Jenseits. Ein liebliches Mädchengesicht war über ihm, sanft und lächelnd. Sicherlich handelte es sich um einen Engel.
„Wie geht es dir?“ fragte sie, aber er verstand ihre Sprache nicht. Dann fiel ihm ein, daß er sie kannte.
„Bist du auch tot?“ fragte er verdutzt.
„Was sagt er?“ wollte Ludmilla wissen.
Branco Fernan und Ton de Wit rückten näher und beugten sich über das Lager ihres Patienten.
„Er spricht Arabisch“, sagte der Ritter. „Er fragt dich, ob du auch tot seist.“
„Quicklebendig“, erwiderte sie kichernd.
„Wer bist du, mein Sohn?“ fragte Branco Fernan. Sein Arabisch war unvollkommen und ein bißchen holprig, aber er wußte sich zu verständigen.
„Güner, der Kurde“, erwiderte der Pirat. „Werdet ihr mich jetzt töten?“
Branco Fernan lächelte aus dem Dunkel seines Helmes auf den Kurden hinunter. Güner fand, daß sein verschrumpeltes Gesicht dem einer Schildkröte glich.
„Überlege doch mal“, sagte der selbsternannte Ritter des Herrn. „Das würde doch keinen Sinn ergeben. Erst retten wir dich, dann töten wir dich? Nein. Du lebst. Es ist ein Wunder geschehen. Danke deinem Schöpfer.“
„Allah sei Dank“, murmelte der Flußräuber.
„Falsch“, sagte Branco Fernan tadelnd. „Gott sei Dank.“
„Wer ist das, Gott?“
„Der einzige Gott, der wirklich existiert.“
„Also Allah. Na gut, Gott sei Dank, meinetwegen“, sagte Güner. „Wo habt ihr mich gefunden?“
„Im Fluß. Du mußt Ludmilla danken.“ Branco Fernan wies auf das Mädchen.
Nie in seinem Leben hatte sich Güner derart geschämt. „Verdammt, es tut mir leid.“
Natürlich übersetzte Branco Fernan alles, was er sagte, ins Holländische. Und umgekehrt übertrug er die eigenen Worte und das, was Ludmilla und Ton de Wit äußerten, so gut es ging, ins Arabische.
„Ist nicht so schlimm“, erwiderte Ludmilla lächelnd. „Mir geht es ja gut.“
„Es war alles Ebel Schachnams Idee“, erklärte Güner. Irgendwie war es richtig, die ganze Schuld auf den Hundesohn von einem Bärtigen zu schieben. Es stimmte ja auch, er hatte den Plan gehabt, das Mädchen zu vergewaltigen. „Er hetzte uns los, Beute zu holen. Dabei stießen wir durch Zufall auf dich.“ Er sah dem Mädchen in die Augen. „Die Kerle hielten dich für eine Hexe.“
Ton de Wit mußte unwillkürlich lachen, als Branco Fernan das Wort „Hexe“ übersetzte. Ludmilla fixierte ihn. Hätten Blicke töten können, wäre der Riese jetzt mausetot umgekippt, ohne noch einen Laut von sich zu geben.
Branco Fernan, der Riese und das Mädchen hörten sich an, wie der Kurde die ganze Geschichte noch einmal aus seiner Sicht erzählte – bis zu dem Punkt, an dem die Flußräuber vergeblich nach dem Trio gefahndet hatten.
„Wir haben eben in der falschen Richtung gesucht“, schloß er seinen Bericht ab. „Ebel Schachnam glaubte nicht, daß ihr hier unten am Ufer sein könntet. Dennoch wird er weitersuchen. Ich kenne ihn. Der gibt nicht auf. Der hält durch bis zum Umfallen, und er bringt jeden um, der ihn zu bremsen versucht. Sein Haß ist grenzenlos.“
„Er ist überzeugt, daß du tot bist“, sagte Branco Fernan nachdenklich. „Sonst hätte er dich nicht in den Fluß werfen lassen.“
„Ich werde ihn als Gespenst heimsuchen“, sagte der Kurde mit verzerrtem Gesicht.
Der Ritter bewegte sich, die Rüstung klapperte. „Das bleibt dir überlassen. Aber erst brauchst du Ruhe. Du mußt dich von uns pflegen lassen. Deine Wunden könnten wieder aufbrechen.“
„Dieser Hund muß sterben!“ preßte Güner hervor, doch die jäh wieder einsetzenden Schmerzen brachten ihn zum Verstummen.
„Wie leicht hätte die Klinge des Gegners dein Herz treffen können“, sagte Branco Fernan. „Oder sie hätte deine Eingeweide zerfetzt. Hast du daran gedacht?“
„Ja.“
„Sei froh, daß du lebst.“
„Das tue ich“, erwiderte Güner. „Und ich kann eure Großherzigkeit immer noch nicht fassen.“
„Nicht alle Menschen sind schlecht und gemein“, sagte Ludmilla. „Kapierst du das?“
„Es fällt mir schwer“, entgegnete der Kurde wahrheitsgemäß. „Aber ich bin jetzt froh, daß ich nicht mehr bei der Bande bin. Von Ebel Schachnam wollte ich schon lange weg.“
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