Ein Schwarzhaariger, ein Riese von einem Mann, befand sich an der Spitze des kleinen Trupps, der sich unheimlich schnell über Deck bewegte und kämpfend zum Achterkastell der „Candia“ strebte.
Die Portugiesen erkannten ihn wieder.
„El Lobo del Mar“, stieß der Profos do Velhos entgeistert aus. „Das kann doch nicht wahr sein.“
Dann hastete er mit erhobenem Säbel auf den Todfeind zu und trachtete, ihn zu stoppen.
Hätten die beiden Soldaten der Deckswache nicht die Lampe angezündet, um die Brook des einen Geschützes fester zu zurren, hätte der Seewolf wahrscheinlich noch sehr viel mehr Zeit benötigt, um sich an die „Candia“ heranzupirschen. So aber hatte der Feind ihm durch eine winzige Unachtsamkeit seine Position verraten.
Als Stoßtrupp hatte Hasard seine besten Männer ausgewählt: Ben Brighton, Ferris Tucker, Big Old Shane, Smoky, Dan O’Flynn, Carberry und Batuti. Old O’Flynn übernahm während des Entermanövers das Kommando über die „Isabella“. Der Rest der Crew hielt sich als Nachhut bereit. Die Zwillinge hatten sich selbstverständlich wieder ins Mannschaftslogis zurückziehen müssen.
Dies war Hasards einfache, aber bewährte Strategie: Nicht alle Männer wollte er von Anfang an in den Kampf gegen die Portugiesen werfen, mehr als die Hälfte der Crew verweilte sprungbereit hinter dem Backbordschanzkleid der „Isabella“ und wartete die Entwicklung der Dinge ab.
Mit seinen sieben Männern fühlte sich Hasard beweglicher als mit der kompletten Mannschaft, außerdem setzte er nicht ihrer aller Leben aufs Spiel.
Die Männer der „Candia“ waren gründlich überrumpelt worden. Wie Hasard durch einen raschen Blick rundum feststellte, schien die Deckswache aus zehn, höchstens zwölf Männern zu bestehen. Die übrigen Besatzungsmitglieder kamen auf die Alarmrufe hin nicht flink genug auf die Beine, sie mußten erst ihren Schlaf abschütteln und aus den Kojen kriechen, zu den Waffen greifen und den Weg vom Logis im Vordeck bis aufs Hauptdeck zurücklegen.
Hasards „Aktionskommando“ hatte den Weg zum Achterkastell des Viermasters fast frei. Kein einziger Schuß war bisher gefallen, alles lief verhältnismäßig geräuschlos ab, wenn man von den Rufen absah, die die Portugiesen ausstießen.
Ben Brighton hatte einem Soldaten die Muskete aus den Händen geschlagen. Statt ihn anschließend mit dem Schiffshauer zu durchbohren, hatte er ihm den Knauf des Waffengriffs kurzerhand über die Stirn gezogen, und der Mann war bewußtlos zusammengebrochen. Gegen Hiebe wie diese schützte eben auch ein iberischer Eisenhelm nicht.
Ferris, Shane und Smoky hatten bei diesem Überraschungsangriff gleichfalls Seeleute und Soldaten der „Candia“ durch gezielte Schläge gefällt, bevor diese ihre Schußwaffen einsetzen konnten – und ähnlich waren der junge O’Flynn, der Profos und Batuti verfahren.
Hasard hatte ihnen eingeschärft, daß er kein Massaker anrichten wollte. Natürlich durften die Seewölfe andererseits auch nicht zu zaghaft mit den Portugiesen umspringen, aber das taten sie auch nicht. Ihre Devise bei diesem Entermanöver lautete nur: Getötet wird, wenn es unumgänglich ist, sonst nicht. Nur im Fall äußerster Notwehr gingen sie bis zur letzten Konsequenz.
Durch diese selbstgesetzte Norm hatten sich Hasard und seine Crew immer von anderen Schiffsmannschaften unterschieden. Sie waren menschlicher als alle anderen Abenteurer und Schnapphähne, die über die Weltmeere segelten und verabscheuten im Grunde ihres Herzens Grausamkeiten. Genau dies machte nach Hasards Überzeugung den feinen Unterschied zwischen einem gewöhnlichen Piraten und einem Korsaren aus.
Hasard dachte, das Achterkastell stürmen zu können, aber plötzlich schob sich eine breite Gestalt in sein Blickfeld.
„Lobo del Mar!“ brüllte der Portugiese. „Nieder mit dir! Ich töte dich wie einen räudigen Hund!“
Seiner Kleidung nach war der Mann leicht als der Zuchtmeister der „Candia“ zu identifizieren. Sein Gesicht war zu einer haßerfüllten Grimasse verzerrt, seinen Säbel hielt er hoch erhoben, um ihn auf den Todfeind Spanien-Portugals niedersausen zu lassen.
Eine fromme Rede hatte der Profos der „Candia“ da von sich gegeben, und er gedachte seine Drohung auch in die Tat umzusetzen. Hasard riß jedoch geistesgegenwärtig den langen Cutlass hoch, den er aus seiner Kammer mitgenommen hatte, parierte und ließ den gegnerischen Säbel von seiner Klinge abprallen.
„Freund!“ stieß der Seewolf aus. „Mein eigener Profos hat ein Narbengesicht, aber er ist hundertmal schöner als du.“
Auf spanisch hatte er es gesagt, der Portugiese verstand ihn und wurde durch den Ausspruch noch mehr in Rage versetzt. Durch einen wilden Ausfall trachtete er, Hasards Verteidigung niederzusensen. Aber wieder war der Seewolf auf der Hut, wieder hatte der Zuchtmeister keinen Erfolg, sondern mußte sich vor der Klinge des Gegners in Sicherheit bringen, die ihm nun bedrohlich um die Ohren pfiff. Der Kampf auf dem achteren Teil der Kuhl tobte hin und her.
Ben, Smoky, Dan, Ed und Batuti hatten noch genug mit den übrigen Gegnern auf dem Hauptdeck zu tun, sie konnten ihren Kapitän nicht unterstützen.
Big Old Shane und Ferris Tucker hatten sich mittlerweile bis zum Vordeck vorgearbeitet und bauten sich nun zu beiden Seiten des Schotts auf – so, wie der Seewolf es noch an Bord der „Isabella“ mit ihnen durchgesprochen hatte.
Vorsorglich hatten die beiden Männer sich auch mit ein paar Belegnägeln versorgt, die sie sich in die Gurte geschoben hatten. Aber als Hauptwaffen hielten sie solide Handspaken in den Fäusten – Hölzer aus guter englischer Eiche.
Dank des Überraschungsmomentes, das der Seewolf auf seiner Seite hatte und gründlich hatte ausnutzen können, war alles sehr, sehr schnell gegangen. Selten war ein derart großes Schiff von so wenigen Männern in so kurzer Zeit geentert worden. Von der richtigen Strategie und Taktik hing es jedoch ab, ob die Seewölfe auch im folgenden einen Erfolg für sich verbuchen konnten.
Alles hing davon ab, ob sie verhindern konnten, daß die gesamte Mannschaft an Oberdeck erschien. Hasards Crew zählte zweiundzwanzig Köpfe – aber die Besatzung der „Candia“ war gut vier Dutzend Mann stark.
Das Schott war nach dem Erscheinen des Profos’ auf der Kuhl wieder zugeklappt. Jetzt öffnete es sich erneut, und der erste Mann des portugiesischen Nachschubs tauchte fluchend auf.
Ferris nickte Shane zu. Der ehemalige Schmied und Waffenmeister von Arwenack-Castle tickte den Portugiesen mit der Handspake an, es gab einen dumpfen, beinah hohlen Laut, und der Mensch fiel nach zwei stolpernden Schritten der Länge nach auf die Planken und stand nicht wieder auf.
Shane grinste, Ferris hieb nun ebenfalls mit der Spake zu, der nächste Gegner sank aufs Deck. Danach war wieder Shane an der Reihe. Der dritte Gegner riß die Arme hoch, nachdem er seinen Hieb eingesteckt hatte, torkelte noch ein Stück voran und strauchelte über die zwei bereits liegenden Gestalten.
Die Dons hörten nicht auf, aus dem Vordecksschott hervorzustürmen. Big Old Shane und der Schiffszimmermann hatten redlich zu tun, sie schlugen in fast rhythmischen Abständen zu.
Mehr als zehn Feinde setzten sie auf diese Weise außer Gefecht, aber dann schienen die übrigen Männer unten im Vordeck begriffen zu haben – sie zögerten.
Nur noch einer schob sich vorsichtig auf die Schottöffnung zu. Er hatte eine Blunderbüchse im Anschlag, mit der man im Nahkampf ganz Verheerendes anrichten konnte.
Shane stand mit dem Rücken gegen die Vordeckswand gelehnt. Wieder nickte er Ferris zu. Im richtigen Augenblick packte Ferris den Riegel des Schotts und versetzte es so heftig in Schwung, daß es zuknallte und den Gegner frontal erwischte.
Der gurgelte, und man konnte hören, wie seine Waffe auf die Stufen des Niedergangs polterte. Der Widerstand, der den gespannten Hahn festhielt, war nicht groß genug für so einen Aufprall – die Blunderbüchse ging los.
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