„Was wollt ihr hier?“ stieß sie heiser aus. „Geht fort, weit fort, ihr habt hier nichts verloren. Ihr habt euch den falschen Platz zum Verweilen ausgesucht, glaubt es mir.“
„Madre“, herrschte Pinho Brancate die Alte an. „Wie oft soll ich dir noch sagen, daß du die Tür nicht anfassen sollst? Wo stecken denn Emilia und Josea? Dios, der Wind könnte dich glatt zu Boden werfen. Abuelita, sei doch nicht so starrsinnig.“
„Mich wickelst du nicht ein, du raffinierter Hund“, zischte die Alte. „Mir kannst du nichts vorgaukeln, ich durchschaue dich.“
Brancate schob sich an dem Kapitän vorbei und drängte seine Mutter mit sanfter Gewalt ins Haus. Sie schimpfte weiter, aber er ging nicht darauf ein, sondern beförderte sie in einen Nebenraum des großen Kaminzimmers, in das Charutao und Iporá die Gäste jetzt geleiteten. Pinho Brancate zog die Holzbohlentür des Nachbarraumes zu, legte einen Riegel vor und begab sich mit entschuldigendem Grinsen zu seinen Besuchern zurück.
„Die Abuela ist nicht mehr ganz richtig im Kopf“, sagte er. „Sie dürfen ihr nicht übelnehmen, was sie sagt.“
„Natürlich tun wir das nicht“, entgegnete Monforte matt.
Tarquinho schaute zu dem bärtigen Riesen auf. „Viele Leute werden im Alter wunderlich. Ich habe einen achtzig Jahre alten Vater, der körperlich noch völlig auf der Höhe ist. Manchmal aber läuft er ohne jeglichen Anlaß von zu Hause weg, und es bereitet unglaubliche Mühe, ihn wiederzufinden.“
„Ja, ja“, meinte Pinho Brancate. „Wem sagen Sie das, Amigo mio. Einmal wollte sich die Abuela von den Klippen stürzen. Ich kam gerade noch rechtzeitig, um sie zurückzuhalten.“
„Leben und Tod“, murmelte Alvaro Monforte. „Nur ein Hauch trennt beides voneinander. Welchen Wert hat das Leben eines Menschen? Wie leichtfertig darf man damit umgehen? Wer gibt uns das Recht dazu, über anderer Leute Schicksal zu befehlen?“
Brancate gab seinen Söhnen einen Wink. Sie verließen das geräumige Kaminzimmer. Brancate setzte sich zu seinen nassen, entnervten Gästen an den klobigen Zypressenholztisch und faltete die mächtigen Hände.
„Senor Capitán“, sagte er ruhig. „Sie sind jetzt verbittert, aber Sie müssen einsehen, daß das Leben weitergeht – nicht nur für Sie, auch für diese vier Männer hier. Ich verstehe nichts von der Seefahrt, das habe ich Ihnen ja schon erklärt. Aber ich weiß, daß man an Bord eines Segelschiffes immer mit dem Unfaßbaren rechnen muß – mit dem Tod. Wer dem Sturm entrinnt, ist zum zweitenmal geboren.“
„Sie können mich nicht begreifen“, entgegnete Monforte. „Sie kennen nicht alle Hintergründe, Brancate.“
„Haben Sie Schuldgefühle, Capitán? Machen Sie sich Vorwürfe?“
„Dazu habe ich keinen Grund.“
„Wirklich nicht“, fügte der erste Offizier der „Sao Sirio“ bekräftigend hinzu – mehr für seinen Kapitän als für den Besitzer der Herberge. „Capitán Monforte hat alles getan, um sein Schiff und seine Mannschaft vor dem Verderben zu retten.“
„Gott gebe, daß alle Männer so werden wie Sie“, sagte Brancate ergriffen zu seinem Gegenüber.
Monforte fixierte ihn. „Senor, ich möchte weder zum Helden ernannt werden noch einen Glorienschein erhalten. Bitte, verlieren wir kein Wort mehr über die Vorfälle dieser Nacht. Es geht mir nur um eins – um Gerechtigkeit.“
„Man hat Ihnen – ein Unrecht angetan?“ fragte der Bärtige verdutzt.
„Unser Schiff gehörte einem Fünferverband an“, sagte Tarquinho, der Decksälteste. „Unser Capitán ist der Meinung, es war ein Fehler des Kommandanten, dem Sturm trotzen zu wollen. Wir hätten irgendwo Schutz vor dem Wetter suchen sollen.“
„Schweigen Sie“, fuhr Monforte den Mann an. „Wer hat Ihnen die Erlaubnis gegeben, diese Details an einen unbeteiligten Dritten weiterzuverraten?“
„Niemand, Senor“, antwortete Tarquinho irritiert.
„Sie werden von jetzt an keine Einzelheiten mehr ausplaudern, die unseren Verband und unseren Auftrag betreffen“, erklärte Monforte barsch.
„Nein, Senor“, sagte Tarquinho erschrocken. „Und verzeihen Sie mir. Ich habe – nicht mehr daran gedacht, daß …“
„Schon gut“, entgegnete der Kapitän merklich ruhiger. „Es ist ja nicht so tragisch. Ich bin völlig fertig. Mir ist hundeelend zumute, da dreht man leicht durch.“
Pinho Brancates ließ seine Besucher nicht aus den Augen. Ein geheimer Auftrag? fragte er sich. Der Capitán will nicht, daß ich darüber etwas erfahre. Nun, im Grunde schert es mich ja auch einen feuchten Kehricht, was für eine Mission dieser Verband hat. Nur ein wichtiger Punkt wäre da zu beachten …
Er beugte sich vor und sagte: „Senores, sicherlich wird der Geschwaderführer nach der ‚Sao Sirio‘ suchen lassen, sobald der Sturm nachläßt und es hell wird.“
„Bei der Hast, mit der er den Verband vorantreibt, wird er sich mit uns, den ‚Nachzüglern‘, nicht aufhalten“, erwiderte Monforte erbittert. „Ich schätze eher, er behält seinen Nordkurs bei und wartet darauf, daß die anderen Schiffe seinen Vorsprung aufholen.“
„Aber so erfährt er nie, daß es die ‚Sao Sirio‘ zerschmettert hat“, stieß Brancate in gut gespielter Entrüstung aus. „Und es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis jemand die, äh, traurigen Überreste des stolzen Schiffes birgt.“
„Zu bergen gibt es da nichts mehr“, erwiderte der Kapitän. „Und die ‚Sao Sirio‘ als reiner Kriegssegler hat ja auch keine Reichtümer befördert, wenn man einmal von ihrer Armierung und ihrer sonstigen Ausrüstung absehen will. Kurzum, alle Bestrebungen des Comandanten in dieser Richtung wären vergebliche Liebesmühe. Ein Zeitverlust. Man kann darauf verzichten. Verstanden, Brancate?“
„Ja. Durchaus.“
„Aber schließen wir das Thema jetzt ab.“
„Einverstanden, Senor Capitán.“ Pinho Brancate erhob sich von seinem Stuhl, trat an den gemauerten Kamin und kauerte sich davor. Er schürte die Glut, bis die Flammen munter emporzüngelten, und legte Holz nach. Im Nu bullerte und knisterte das Feuer, und ein hellerer Schein zuckte durch den großen Raum. Brancate wandte sich um und lud seine Gäste durch eine Geste ein näherzurücken.
Sie nahmen gern an. Mit ihren Sitzgelegenheiten begaben sie sich dicht vor das Feuer. Es war Juni und trotz des Sturmes eine laue Nacht, aber nach dem unfreiwilligen Bad in der See tat die Wärme wohl, die nun an ihren Gliedmaßen emporkroch.
Eine Zimmertür öffnete sich, und Charutao und Iporá kehrten in Begleitung ihrer Mutter und ihrer Schwester zurück. Emilia eilte auf die fünf Männer der Galeone zu, begrüßte sie und überschüttete sie mit Freundlichkeit. Die jungen Männer holten sich Stühle und setzten sich ebenfalls an den Kamin.
Josea, die Zwanzigjährige, hatte eine unaufdringliche Art, sich in dem Kaminzimmer zu beschäftigen. Sie förderte aus einem der schweren Schränke eine Korbflasche Rotwein und Becher zutage, holte Brot, Schinken, Hartwurst, Käse und stellte alles auf den Tisch.
Monforte registrierte sofort, daß seine Begleiter nur noch Augen für dieses schöne, gutgewachsene Mädchen hatten.
„Emilia“, brummte Pinho Brancate. „Kannst du nicht besser auf die Abuela aufpassen? Sie hat unsere Gäste natürlich sofort auf ihre Art begrüßt. Wo, zum Teufel, hast du gesteckt?“
„Im Stall bei den Tieren. Konnte ich denn ahnen, daß du jemanden mitbringst?“
„Du weißt doch, wie oft wir in Sturmnächten Schiffbrüchige zu uns nach Haus geholt haben.“
„Ja, das stimmt. Und du bist ja extra deshalb aufgebrochen, weil du nachsehen wolltest, ob wieder ein Unheil am Riff geschehen war“, entgegnete die stämmige Frau. „Verzeih, Pinho, daß ich so unaufmerksam gewesen bin. Senores, verzeihen auch Sie.“
„Ach, Schwamm drüber, das ist doch nicht der Rede wert“, sagte Reto, der Erste Offizier. Er hatte wie die anderen aus Joseas Hand einen Becher voll dunklem Rotwein entgegengenommen und als erster von diesem vorzüglichen Tropfen gekostet. Es war ein herrliches Gefühl, den Wein die Kehle hinabrinnen zu lassen, und Joseas Anwesenheit trug ebenfalls zu einer gewissen Gemütswandlung bei. Fast aufgeräumt prostete Reto den Brancates zu. „Ihr habt viel für uns getan, und wir werden es euch nie vergessen.‘“
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