„Schrecklich“, sagte sie.
„Weißt du wirklich, wie das ist, wenn man nichts zu beißen hat?“
„Ja. Ich habe es erfahren. Am eigenen Leib.“
Sie schritten auf das Licht im Nordosten zu und hatten den schmalen Gürtel aus Pinien und Zypressen hinter sich gebracht, als Kapitän Alvaro Monforte abrupt stehenblieb.
„Da ist jemand“, sagte er gepreßt. „Dort, links von uns.“
Reto und Tarquinho lenkten ihre Blicke in die von ihrem Vorgesetzten angegebene Richtung. Auch der Soldat und der Decksmann der „Sao Sirio“ – sie hießen Tulio und Josefe – spähten nach links.
So gewahrten sie alle die drei Männer, die sich ihnen näherten. Eine wuchtige und zwei schlanke Gestalten in Wind und Regen waren es. Sie hoben im Näherkommen die Hände und riefen etwas.
Monforte und seine Begleiter hatten unwillkürlich zu den Waffen gegriffen. Ihre Pistolen waren durch das Seewasser unbrauchbar geworden, aber sie hatten noch Degen und Säbel, mit denen sie sich notfalls ihrer Haut wehren konnten.
„Wenn das Wegelagerer sind“, zischte Monforte, „haben sie kein leichtes Spiel mit uns. Wir sind zu fünft. Solange keine anderen Männer auftauchen, sind wir in der Überzahl und erledigen sie, selbst wenn sie uns mit Pistolen zu Leibe rücken.“
„Ich glaube, die haben keine feindlichen Absichten“, sagte Tulio, der Soldat.
„Der Mann in der Mitte ruft wieder etwas“, meinte Tarquinho, der Decksälteste. „Himmel, wenn man es nur verstehen könnte. Capitán, er hat einen mächtigen Vollbart, glaube ich.“
„Wer seid ihr?“ schrie Monforte den drei Männern zu.
„Companhero“, erwiderte der Bärtige, „habt Vertrauen zu uns! Wir wollen euch helfen! Was ist euch passiert?“
„Wer seid ihr?“ wiederholte der abgekämpfte, argwöhnische Kapitän seine Frage.
Der Bärtige blieb stehen, und sofort verhielten auch die beiden anderen ihren Schritt. „Pinho Brancate und seine Söhne Charutao und Iporá“, entgegnete er. „Wir sind friedfertige Bewohner der Küste, ehrbare Leute. Der Wind hat Schreie zu unserem Haus herübergetragen, und wir wollten nach dem Rechten sehen. Wir haben unten auf dem Kieselstrand Männerleichen entdeckt. Was hat das zu bedeuten? Habt ihr damit zu tun? Was ist geschehen?“
„Tretet näher“, forderte Monforte die drei auf. „Habt ihr Waffen?“
„Nein, wir haben keine“, sagte Pinho Brancate mit sonorer Stimme.
Die Männer der „Sao Sirio“ musterten ihn und seine Söhne und stellten fest, daß die drei tatsächlich weder Schuß- noch Hieb- oder Stichwaffen bei sich führten. Das überzeugte sie vollends von der Harmlosigkeit der Brancates. Monforte, Reto, Tarquinho, Tulio und Josefe nahmen nacheinander die Hände von ihren Degen und Säbeln.
Nachdem Alvaro Monforte den Vater und dessen beide Söhne eingehend betrachtet hatte, sagte er: „Wir sind Schiffbrüchige. Unsere Galeone ‚Sao Sirio‘ ist keine Viertelmeile vor der Küste auf ein tückisches Riff gelaufen. Nur wir fünf sind ihrem Untergang lebend entkommen.“
Brancate bekreuzigte sich. „Das Riff“, murmelte er. „Das verfluchte Riff, immer wieder fordert es Opfer. Es ist schon vielen Schiffen zum Verhängnis und vielen braven Männern zum Friedhof geworden. Sie sind der Capitán, Senor?“
„Ja.“
„Ich spreche Ihnen hiermit mein Beileid aus. Kann ich irgendwie helfen? Gibt es noch irgend etwas zu tun?“
Monforte nannte seinen Namen. Er stellte auch seine vier Männer vor, und die Brancates schüttelten ihnen nacheinander die Hände.
Charutao und Iporá hatten eine andere Statur als ihr Vater, aber aus der Nähe fiel doch ihre große Ähnlichkeit mit Pinho Brancate auf. Ihre Züge waren ihm wie aus dem Gesicht geschnitten, das konnte auch nicht das Bartgestrüpp verbergen, das Pinho Brancates Kinn und Wangen überwucherte. Sehnige junge Männer waren Charutao und Iporá, augenscheinlich strotzten sie vor Gesundheit.
„Senor Brancate“, sagte Monforte. „Sie sind Fischer, nehme ich an?“
„Nein. Ich habe keine Beziehung zum Meer, wenn wir auch nicht weit davon entfernt leben. Mehr noch, ich hasse die See.“
„Das ist ungewöhnlich …“
„Mein Vater ertrank darin“, versetzte der Bär von einem Mann gedämpft. „Ich kann es nicht vergessen und immer, wenn ich die Abuela, meine Mutter, anschaue, erinnere ich mich an die furchtbare Szene, die ich miterlebte, ohne etwas tun zu können.“
Monforte nickte. „Ich kann Ihnen nachempfinden, wie Ihnen zumute ist, glauben Sie es mir. Ich habe mehr als zwanzig meiner Männer einen grausigen Tod sterben sehen. Sie haben folglich auch kein Boot, wie ich annehme?“
„Nein. Wir leben von der Landwirtschaft – meine Familie und ich. Außerdem betreiben wir nebenher noch eine bescheidene Herberge, Capitán.“
„So. Ich hatte gehofft, mit Ihrer Hilfe die Leichen meiner Männer nach seemännischem Zeremoniell bestatten zu können.“
Brancate hob die Schultern und ließ sie wieder sinken. „Verzeihen Sie mir, aber mit einem Boot kann ich wirklich nicht dienen.“
„Im Morgengrauen könnten wir einen der Fischer aufsuchen, die in der Umgebung wohnen“, sagte Charutao, der ältere der Brüder. „Wenn wir einen dieser Männer um seine Schaluppe bitten, wird er uns gewiß nicht die Tür weisen.“
„Danke“, erwiderte Monforte. „Warten wir also bis zum Anbruch des neuen Tages.“
„Warten wir in meinem Haus“, sagte Pinho Brancate. „Wir werden ein Feuer im Kamin entzünden, Capitán, Sie und Ihre Männer können sich trocknen. Wir beköstigen Sie und geben Ihnen ein weiches Bett, in dem Sie sich ausruhen können. Ich weiß, ich weiß, Ihnen ist nach diesem entsetzlichen Unglück nicht nach Schlaf zumute, aber Sie werden schon noch einsehen, daß Sie ein wenig Schlummer bitter nötig haben.“
„Wahrscheinlich“, erwiderte Monforte erschöpft. „Aber wir können Ihre Dienste nicht bezahlen, mein werter Brancate. Wir haben keinen einzigen Escudo in der Tasche.“
„Das ist auch nicht notwendig“, sagte Brancate. Er beschrieb eine theatralische Gebärde und hob abwehrend beide Hände. „Nie würde ich von Ihnen Geld annehmen!“
„Aber die Armada wird Sie dafür entlohnen, daß Sie uns Unterkunft gewähren“, fuhr Monforte fort. „Die ‚Sao Sirio‘ war eine Kriegsgaleone, wir unterstehen dem Oberkommando der Admiralität von Lissabon.“
Brancate nahm plötzlich Haltung an. Auch die Gestalten seiner Söhne versteiften sich.
„Um so größer ist die Ehre, Sie in meinem bescheidenen Heim willkommen zu heißen“, sagte der Bärtige. „Ich bin stolz darauf, Männer der siegreichen, unüberwindlichen Armada unter meinem Dach zu wissen. Es würde mich zutiefst kränken, wenn Sie sich mir in irgendeiner Weise verpflichtet fühlen würden.“
Monforte erhob keinerlei Einwand, er fühlte sich zu schwach dazu. „Danke. Ich wäre froh, wenn wir jetzt zu Ihrer Herberge gehen könnten.“
Brancate übernahm sofort die Führung. Nur noch die nächste Hügelkuppe hatten sie zu überqueren, dann rückte das Licht, das die Männer der Galeone schon vorher entdeckt hatten, rasch näher und entpuppte sich als ein quadratisches, voll ausgeleuchtetes Fenster in einer hohen Hausmauer. Das von Monforte anvisierte Ziel war also mit dem Heim der Brancates identisch, der Kapitän konstatierte es mit einer Art beruhigendem Gefühl. Hier, in dieser solide gebauten Oase mitten im Sturm, schien man wirklich sicher zu sein vor weiteren Unbilden der Natur.
Die Eingangstür des Steinhauses wurde von innen geöffnet, als sie nur noch ein paar Schritte davon entfernt waren. Alvaro Monforte sah eine vom Alter gebeugte Frau in dem dämmrig leuchtenden Viereck erscheinen. Sie wandte Monforte ihr zerknittertes Greisengesicht entgegen und musterte ihn aus klaren Augen.
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