Münnever hätte ihnen am liebsten zugerufen, sich nicht so unterwürfig zu zeigen, denn sie mochte das Gefühl nicht, daß sie den Armen ihren letzten Rest von Stolz nahm, indem sie sie beschenkte.
Am liebsten hätte sie ihnen erklärt, daß sie ihrer Meinung nach ein Anrecht darauf hätten, nicht in Elend und Hunger zu vegetieren, daß es die Pflicht der Reichen sei, etwas vom eigenen Wohlstand abzugeben und den Menschen damit zu helfen, die vom Schicksal benachteiligt worden waren.
Aber sie konnte es nicht jedem einzelnen erklären. Und vielleicht würde sie auch falsch verstanden werden. Ihr Mann unterstützte sie bei ihren Bemühungen um die Benachteiligten dieser Stadt mit vollem Herzen. Doch dabei konnte er keineswegs mit der Unterstützung von Männern gleichen Standes rechnen.
Eher wurde er dafür kritisiert, daß sich sein Eheweib die Freiheit herausnahm, etwas zu tun, was ihr in keiner Weise zustand. Gehorsame Ehefrauen hatten sich in den Harem einzuordnen und die ihnen zugewiesenen häuslichen Aufgaben zu erfüllen. Nichts anderes.
Eine Frau wie Münnever Yildiz war den nach althergebrachten Maßstäben denkenden Männern ein Dorn im Auge. Und sie konnten nicht begreifen, daß Kemal Yildiz ein Mann war, der so etwas zuließ.
Aus der Reihe der Bedürftigen trat einer vor und auf die Kutsche der Frau zu. Der Kutscher wollte sich ihm in den Weg stellen, aber Münnever rief ihn zurück.
Der Mann, der eine gefüllte Kanne in der Rechten hielt und in graubraune Lumpen gekleidet war, blieb in respektvollem Abstand vor der Kutsche stehen und verbeugte sich tief.
Münnever tat es in der Seele weh, sein eingefallenes Gesicht und die glanzlosen Augen zu sehen. Dabei war er ein hochgewachsener Mann, der sicher stark und gesund wäre, wenn er nur Arbeit und Brot gehabt hätte.
„Richte dich auf“, bat sie mit fester Stimme. „Ich bin keine Herrscherin. Ich bin nur eine einfache Frau, die es zufällig etwas besser getroffen hat. Also sprich, wenn du etwas zu sagen hast. Sprich, wie du mit einem normalen Menschen sprechen würdest.“
Der Mann richtete sich auf. In seinen Augen leuchtete unendliche Dankbarkeit.
„Mit Verlaub“, sagte er leise, „Ihr irrt euch. Von den gewöhnlichen Menschen unterscheidet Euch die Güte. Selbst unter meinesgleichen“, er deutete mit einer ausholenden Handbewegung auf die Menschenmenge, „wird es nicht einmal einen geben, der die gleiche Mildtätigkeit zeigen würde. Eigennutz ist das Grunddenken, das die menschliche Natur bestimmt. Davon bin ich überzeugt.“
„Du schmeichelst mir“, sagte die Kaufmannsfrau mit gerührtem Lächeln. „Das ist doch bestimmt nicht der Grund, warum du an mich herangetreten bist.“
Der zerlumpt Gekleidete mit dem hohlwangigen Gesicht lächelte. „Ihr habt recht. Es war nicht der Grund, aber die Gelegenheit, Euch einmal Dank zu sagen.“
„Nun gut. Ich freue mich darüber. Es ist so, wie ich es sage.“
„Ihr braucht das nicht extra zu betonen. Ihr könntet gar kein falsches Wort sagen, selbst wenn Ihr es wolltet.“
„Nun bring mich nicht in Verlegenheit!“ rief Münnever und lächelte. „Rede über das Thema, das du eigentlich im Sinn hattest.“
Das Lächeln des Zerlumpten schwand.
„Ich möchte Euch darauf hinweisen, daß Ihr seit einiger Zeit beobachtet werdet“, sagte er halblaut. „Bitte dreht Euch jetzt nicht um, denn dann würde es auffallen. Es sind zwei Männer an einem offenen Fenster im zweiten Stockwerk eines Hauses. Schräg hinter Euch. Sie stehen da und schauen die ganze Zeit zu.“
„Wie sehen sie aus?“ fragte Münnever, und auch sie hatte aufgehört zu lächeln.
„Der Kleidung nach gehören sie zu Eurem Stand.“
„Dann kann ich es mir denken.“
Der Zerlumpte zog die Brauen hoch. „Es berührt Euch nicht weiter?“
„Doch. Nur – ich muß damit leben.“
„Ich möchte Euch nur eins sagen: Wenn Ihr Hilfe braucht, werden Euch alle Menschen auf diesem Platz zur Seite stehen. Jeder von uns würde eher sterben, als zulassen, daß Euch etwas geschieht.“
Münnever lächelte wieder. „So ernst ist es nicht, keine Sorge. Vorerst beschränken sie sich darauf, mich zu beobachten. Ich bin ihnen ein Dorn im Auge. Aber sie wissen noch nicht, was sie gegen mich unternehmen sollen.“
Sie ahnte nicht, wie sehr sie sich in diesem Punkt irrte.
„Ich bin Ihnen zu großem Dank verpflichtet, Ravet“, sagte Mehmet Küzürtüsi, einer der beiden Männer, die am offenen Fenster standen. „Daß Sie Ihr Haus für Beobachtungszwecke zur Verfügung stellen, ist nicht selbstverständlich.“
Küzürtüsi faltete die Hände über dem stattlichen Bauch. Sein Seidengewand vertuschte durch den raffinierten Schnitt ein wenig von seiner Leibesfülle. Das Doppelkinn vermochte es jedoch nicht zu verbergen.
„Eine Selbstverständlichkeit“, entgegnete Ravet Antasi, der – wie sein Gesprächspartner – zur Kaufmannschaft von Istanbul gehörte. „In unserem gemeinsamen Bestreben müssen wir alle einen Beitrag leisten, wenn es an der Zeit ist. Mir geht es darum, das Tun dieser Frau einmal deutlich werden zu lassen. Jeden Tag spielt sich hier das gleiche ab. Es ist ein Skandal, wie unser ehrenwerter Freund Yildiz es zuläßt, daß sein Weib die Profite seines Unternehmens mit offenen Händen zum Fenster hinauswirft.“
Küzürtüsi nickte bedächtig und sah sein Gegenüber mit ernster Miene an. Antasi war ein schlanker, schwarzhaariger Mann mit dünnem Oberlippenbart.
„Nun, wir wissen es ja längst“, entgegnete der Füllige. „Aber es ist doch einmal recht anschaulich, es mit eigenen Augen zu beobachten.“
„Wir müssen schleunigst etwas dagegen tun.“
„So ist es, so ist es.“
„Aber was kann man tun?“
Küzürtüsi lächelte hintergründig. „Seien Sie beruhigt, mein Freund, es sind bereits wirkungsvolle Schritte in die Wege geleitet worden.“
„Darf man erfahren, um was es sich handelt?“
Küzürtüsi schüttelte den Kopf. „Ich bin leider zur Geheimhaltung verpflichtet. Das bedeutet nicht, daß ich kein Vertrauen zu Ihnen hätte. Aber Sie werden verstehen, daß ich mich an Zusagen halten muß.“
„Natürlich, selbstverständlich. Hauptsache ist, es wird etwas gegen dieses Weib unternommen. Mit dieser verfluchten Großherzigkeit fällt sie unsereinem in den Rücken. Wie stehen wir denn da, wenn wir es ihr nicht gleichtun!“
„Keine Sorge“, entgegnete Küzürtüsi. „Sie wird bald ganz andere Gedanken haben.“
Der neue Tag hatte für die Arwenacks mit der Bordroutine begonnen. Abermals zeigte sich der Himmel von seiner strahlendsten Seite, und das geschäftige Treiben im Hafen unterschied sich wenig von dem Geschehen an den Tagen zuvor.
Es war am späten Vormittag, als die Söhne des Seewolfs mit Plymmie, der finnischen Wolfshündin, von einem Landgang zurückkehrten. Plymmie flitzte als erste an Bord, als wollte sie es sein, die hechelnd die Neuigkeit kundtat.
Der Seewolf, der sich mit Ben Brighton auf dem Achterdeck aufhielt, strich der Hündin über den Kopf, und sie schmiegte sich an seine Stulpenstiefel.
Sekunden später waren auch Philip und Hasard junior zur Stelle. Keuchend verharrten sie vor ihrem Vater. Der Seewolf wechselte einen Blick mit dem Ersten Offizier.
„Da scheint sich ja eine Sensation anzubahnen“, sagte Hasard lächelnd. „Oder weshalb seid ihr so aus dem Häuschen?“
„Da wird eine Sänfte getragen!“ rief Philip, der als erster wieder zu Atem gelangt war. „Sie nähert sich unserer Pier.“
„Wir glauben, daß es der Besucher ist, der sich für heute vormittag angesagt hat“, fügte Hasard junior keuchend hinzu.
„Durchaus möglich“, erwiderte der Seewolf. „Aber ihr solltet euch doch langsam daran gewöhnt haben, wie sich reiche Leute hierzulande fortbewegen.“
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