Nach ihrem Morgengebet waren die Menschen zur gewohnten Arbeit zurückgekehrt. Rings um die zweimastige Dubas, mit der die Arwenacks an einer Pier vertäut hatten, herrschte lärmende und hektische Betriebsamkeit.
Seefahrer und Händler palaverten über Preise. Handwerker hämmerten und sägten auf den zumeist kleinen Zubringerschiffen. Ausrüster karrten Proviant und Wasserfässer herbei, und Seeleute erledigten ihre gewohnten Arbeiten an Bord.
Für die Männer an Bord der Dubas hieß es nach der Morgenmahlzeit, das Schiff vom Kielschwein bis zu den Masttoppen zu untersuchen. Der Seewolf hatte angeordnet, daß der Rest der Liegezeit in Istanbul für Reparaturen genutzt werden sollte.
Hasard und Dan O’Flynn unternahmen einen Rundgang auf dem Hauptdeck, als ein Reiter sein Pferd auf die Dubas zutrieb und längsseits anleinte. Das Pferd war ein Rappe, ein edler Araber, und das Sattelzeug war aus dem allerfeinsten Leder gefertigt.
Hasard und Dan traten an die Verschanzung. Auch die Arwenacks, die sich auf dem Hauptdeck aufhielten, verharrten, um den Reiter zu mustern. Ein drahtiger, mittelgroßer Mann mit einem kostbaren Turban. Sein ganz aus Seide gefertigtes Gewand war eine Art Uniform. Er trat an die Pforte im Schanzkleid und verneigte sich.
„Mein Name ist Ismail Kaymaz, Abgesandter des Kemal Yildiz. Ich bitte an Bord kommen und den Kapitän sprechen zu dürfen.“
„Schon genehmigt“, sagte der Seewolf. „Ich bin Philip Hasard Killigrew, der Kapitän dieses Schiffes.“
Kaymaz enterte auf und verneigte sich abermals. Sein Gesicht spiegelte echte Freude. Es war ein offenes und ehrliches Gesicht, das vermochte jeder an Bord der Dubas sofort zu erkennen.
„Ich danke Ihnen, Effendi“, sagte Kaymaz. „Sie erweisen mir eine große Gunst, indem Sie mich sofort empfangen. Ich bin es gewohnt, manchmal stundenlang warten zu müssen.“
Der Seewolf winkte ab und lächelte. „Sie tun mir einen Gefallen. Ich gebe zu, daß ich zur Zeit nichts Besonderes zu tun habe. Deshalb ist Ihr Besuch ein willkommener Zeitvertreib.“
Der Türke sah ihn überrascht an. „Das hat noch nie jemand zu mir gesagt“, gestand er leise.
„Dann waren Sie noch nie an Bord eines englischen Schiffes“, sagte Dan O’Flynn.
„Ehrlich gesagt, nein“, erwiderte Kaymaz. „Obwohl Istanbul eine große Hafenstadt ist, gibt es eben doch manches, was einem von der Welt verborgen bleibt. Aber“, er senkte erneut den Blick, „mit Verlaub, Ihr Schiff ist nicht gerade englischer Bauart. Eine russische Dubas, schätze ich.“
Hasard und Dan lachten. „Manchmal ist man gezwungen, auf Dinge zurückzugreifen, die eben möglich sind“, antwortete der Seewolf. „Wir haben unser eigenes Schiff verloren. Aber wir sind zufrieden mit dem Ersatz, den wir beschaffen konnten.“ Er klopfte mit der Hand auf die Verschanzung.
Ismail folgte den beiden Männern auf das Achterdeck, wo Ben Brighton und Don Juan de Alcazar standen und das Geschehen im Hafen beobachteten. Jetzt wandten sie sich dem Besucher zu. Der hochgewachsene Spanier lächelte freundlich. Ben Brightons Miene war verschlossener, wie meist, wenn er es mit Fremden zu tun hatte.
Die Bemerkung des Türken rief die Erinnerung an Varna in Bulgarien wach. Dort hatten die Arwenacks ihr jetziges Schiff „erworben“. Jene Russen, die ihnen den Liegeplatz streitig gemacht hatten, waren mit ihrer eigenen Unverfrorenheit schlecht beraten gewesen.
Da die Dubas der Russen wesentlich größer und besser war als die bisherige eigene, hatte sich der Seewolf zu einem Raid entschlossen. Und die „Umtauschaktion“ hatte geklappt. Jetzt verfügten sie über das neue Schiff, das ebenfalls zweimastig und mit sechs Drehbassen armiert war.
Der Seewolf stellte die Männer einander vor. Erwartungsvoll blickten die Engländer und die Spanier ihren Besucher an. Hasard forderte Kaymaz mit einer Handbewegung auf, zu sprechen.
„Mein Herr ist Kemal Yildiz, wie schon gesagt“, erklärte der Türke. „Ihnen, als Fremde, wird der Name nicht viel sagen. In unserer Stadt jedoch ist es einer der klangvollsten Namen. Mein Effendi gehört zu den bedeutendsten Kaufleuten Istanbuls. Aber er erfreut sich als politisch verantwortungsbewußter Mann auch der Gunst des Sultans. Ich will meinen Herrn nicht in den Himmel heben, Gentlemen, das würde ihm selbst auch am allerwenigsten gefallen. Aber er ist ohne Übertreibung eine der wichtigsten Persönlichkeiten der Stadt.“
„Um so mehr ehrt es uns, wenn er mit uns in Verbindung treten möchte“, entgegnete der Seewolf.
Ismail Kaymaz schüttelte den Kopf und lächelte mild. „Kemal Yildiz läßt Ihnen ausrichten, daß er den Kontakt mit Ihnen aus sehr eigennützigen Motiven sucht.“
Der Seewolf zog die Brauen hoch. „Das nenne ich Offenheit.“
„Mein Herr ist bekannt dafür“, erwiderte Kaymaz stolz. „Allerdings hat er sich auf diese Weise auch schon eine Menge Feinde geschaffen. Nicht jeder schätzt es, wenn die Wahrheit ausgesprochen wird. Nun, ich habe den Auftrag, ein Gespräch vorzubereiten. Effendi Yildiz möchte sich gern mit Ihnen treffen, falls Sie bereit sind, über bestimmte Themen zu sprechen.“
„Welche Themen?“ fragte Hasard knapp.
„Mein Herr ist sehr interessiert, seine Handelsbeziehungen auszuweiten. Es ist die Neue Welt, die ihn fasziniert. Unser Land ist aus eigener Kraft kaum noch in der Lage, sich neue Handelswege zu erschließen. Das ist es, worüber Effendi Yildiz mit Ihnen reden möchte.“
Der Seewolf lächelte erneut. „Wir haben als Engländer zwar nicht unbedingt den direkten Zugang zur neuen Welt, aber ich denke, es ist doch ein lohnendes Thema.“
„Mein Herr wird beglückt sein. Er würde Sie gern auf Ihrem Schiff besuchen.“
„Nichts dagegen einzuwenden. Wann?“
„Morgen, am späten Vormittag, wenn es Ihnen recht ist.“
„Einverstanden“, sagte Hasard. „Richten Sie Ihrem Herrn meine Grüße aus. Ich erwarte ihn morgen hier an Bord, wie vereinbart.“ Er begleitete den Türken zur Pforte im Schanzkleid.
Die Männer an Bord der Dubas blickten dem Reiter nach, wie er im Gewühl des Hafens verschwand.
Edwin Carberry trat auf den Seewolf zu. „Keine Falle, Sir? Bist du sicher, daß nicht wieder irgendeine Schweinerei dahintersteckt?“
Der Seewolf hob die Schultern. „Sicher kann man selten sein. Mir scheint aber, daß wir es mit einem ehrlichen Menschen zu tun hatten.“
„Ehrliche Menschen können mißbraucht werden. Von irgendwelchen verdammten Schlitzohren.“
„Kein Widerspruch, Mister Carberry.“ Hasard lächelte. „Sag mal, willst du jetzt unserem Ersten nacheifern?“
„Als Schwarzseher.“
„O nein, Sir!“ rief Carberry grollend. „In dieser Stadt braucht man kein Schwarzseher zu sein, um böse Ahnungen zu kriegen. Ich wette, der alte O’Flynn spitzt schon wieder die Ohren. Wenn du dich jetzt nicht verziehst, Sir, wirst du gleich den neuesten Stand der Prophezeiungen hören.“
Der Seewolf nickte dem Profos zu, indem er zur Verschanzung auf der anderen Seite der Dubas blickte. Old Donegal lehnte dort, in der Tat mit aufmerksam-wachem Gesichtsausdruck.
„Danke für den Hinweis“, sagte Hasard und erwiderte das Grinsen des Profos.
Er wandte sich ab und dem Achterdeck zu. Es gehörte keine besondere prophetische Gabe dazu, um in Istanbul mit weiteren Komplikationen zu rechnen. Nach den Geschehnissen der vergangenen Tage konnte man sich an den Fingern zweier Hände ausrechnen, daß in dieser Stadt in absehbarer Zeit kaum jemals Ruhe einkehren würde.
Was Old Donegal Daniel O’Flynn als Anlaß nahm, seine düstersten Voraussagen vom Stapel zu lassen, beruhte auf Geschehnissen, die niemandem verborgen waren. Es war eine Tatsache, daß der Niedergang des Osmanischen Reiches – von seinen Feinden lange ersehnt – begonnen hatte. Überall in dieser einst glorreichen Stadt konnte ein aufmerksamer Beobachter die Anzeichen sehen.
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