Er ließ die Werkstatt hinter sich und durchquerte den vorderen Wohnraum. Das helle Licht der. Morgensonne flutete herein. Der dünne kleine Mann war wie üblich zu Fuß erschienen. Und natürlich hatte er darauf geachtet, daß ihn niemand verfolgte.
Diese Gewohnheit war ihm längst in Fleisch und Blut übergegangen, und Ayasli brauchte nicht jedesmal extra zu fragen, ob alles in Ordnung sei. Wenn es Verdruß gab, dann berichtete Öbül schon von selbst darüber.
Es gab genügend Platz im Haus Ayaslis, so daß er seinen Gehilfen ohne weiteres bei sich hätte wohnen lassen können. Dadurch jedoch wäre die Gefahr des Entdecktwerdens um ein Vielfaches gestiegen. Süleyman Ayasli beließ es deshalb beim Bestehenden.
Er zahlte Öbül zusätzlich zu seinem Lohn die Miete für das Häuschen in der Stadt, eine Sicherheitsmaßnahme, die sich als richtig erwiesen hatte. Ayasli ging es darum, seine Arbeit in Ruhe tun zu können, ungestört von lästigen Nachforschungen, wie sie immer wieder auf Geheiß des Sultans angestellt wurden.
Aber der Sultan konnte sich schon lange nicht mehr durchsetzen. Es zeichnete sich immer deutlicher ab, daß neue Kräfte die Verantwortung in der Stadt und im Land übernehmen würden. Süleyman Ayasli hatte daran wesentlichen Anteil, und er freute sich auf den Tag, an dem er in aller Öffentlichkeit stolz, darauf sein konnte.
Öbül drückte die Tür zu und legte den Riegel vor.
„Gut, daß du da bist“, sagte Ayasli. „Ich muß dir etwas zeigen.“
Öbül holte den Brief unter seinem Umhang hervor. „Eine Nachricht“, sagte er und legte das Gesicht in listige Falten. „Der Höllenfürst wird wieder einmal gewünscht, Effendi. Ich habe den Brief in der Nacht erhalten. Bitte überzeugen Sie sich, daß das Siegel unversehrt ist.“
Ayasli winkte ab. Er nahm den Umschlag entgegen, ohne ihn zu öffnen. „Ich vertraue dir, das weißt du. Sieh dir erst einmal an, was ich entwickelt habe.“
Öbül widersprach nicht. Es war sein regulärer morgendlicher Arbeitsbeginn, und er hatte das zu tun, was sein Herr anordnete. Was dieser mit dem Brief anstellte, war letztlich einzig und allein dessen Sache.
Süleyman Ayasli führte seinen Gehilfen zu einem Arbeitstisch an der Stirnseite der Werkstatt. In den Lichtbahnen, die durch das Fenster hereinfielen, stand eine kleine Truhe aus poliertem, edlem Eichenholz. Die Beschläge bestanden aus starkem Messing, ebenfalls poliert.
„Sieh her“, sagte Ayasli und klappte den Deckel auf.
Öbül beugte sich weisungsgemäß vor, konnte aber nichts als den leeren Innenraum der Truhe erkennen.
„Mir fällt nichts auf“, gestand er.
„Sieh dir das Schloß ein bißchen näher an“, gebot Ayasli mit dem Stolz des Mannes, der sich des baldigen Begeisterungsausbruchs seines Gesprächspartners sicher war.
Der Gehilfe des Höllenfürsten betastete den Schloßmechanismus im Inneren der Truhe. Im nächsten Moment stieß er einen überraschten Pfiff aus und sah seinen Herrn mit großen Augen an.
„Das ist ja …“ Vor Staunen konnte er nicht weitersprechen.
„… ein Steinschloß“, vervollständigte Ayasli den Satz des kleinen Mannes. „Du erinnerst dich an den Auftrag, den ich vor zwei Wochen angenommen habe? Der, bei dem ein Zeitraum von Wochen oder Monaten überbrückt werden muß.“
„Ich fange an, zu begreifen“, sagte Öbül gedehnt und mit eben jener Begeisterung, auf die sein Herr gewartet hatte. „Wenn man den Schlüssel dreht, wird der Hahn gespannt?“
„Richtig, und zwar beim Schließen der Truhe.“
Öbül zog die Brauen hoch und rieb sich mit seinen pulvergeschwärzten Fingern das Kinn. „Das heißt, derjenige, der die Truhe wieder öffnet, löst die Zündung aus. Durch einen kurzen Zündkanal wird das Feuer des Zündkrauts ins Pulver geleitet. Die Truhe explodiert und tötet jeden in unmittelbarer Umgebung. Aber …“ Er hielt inne und begann offensichtlich, angestrengt nachzudenken.
Ayasli lächelte mit wissender Miene. „Du meinst das Zeitproblem, nicht wahr? Die Frage, wie sorge ich dafür, daß der Empfänger die Truhe nicht zu einem Zeitpunkt öffnet, den er selbst bestimmt?“
„Genau das“, sagte Öbül, erleichtert darüber, daß sein Herr ihn nicht zwang, über die Lösung nachzugrübeln.
„Für den richtigen Zeitpunkt sorgt der Auftraggeber“, erklärte Ayasli. „Damit brauche ich mich überhaupt nicht abzugeben. Folgendermaßen: Der Auftraggeber schickt die Truhe mit einem Brief an denjenigen, den er aus der Welt haben will. In dem Brief wird der Empfänger gebeten, die Truhe in Verwahrung zu nehmen, da man selbst in Gefahr geraten sei. Nach Wochen oder Monaten, wenn der Auftraggeber den Zeitpunkt für den Tod des anderen für richtig hält, wird er ihm mit einem zweiten Brief den Schlüssel der Truhe schicken und ihn bitten, aus persönlichen Gründen gewisse Wertgegenstände zu entnehmen. Die Neugier des Empfängers spielt natürlich auch eine Rolle. Er wird nichts Eiligeres zu tun haben, als die Truhe – nun ja mit Erlaubnis des Absenders – zu öffnen. Und dann …“ Ayasli ließ seine Hände wie von einer Explosion auseinanderfliegen.
„Eine phantastische Idee!“ rief Öbül bewundernd. „Ihr Auftraggeber wird voll und ganz zufrieden sein.“
„Das will ich hoffen“, entgegnete Ayasli.
Nun endlich nahm er sich die Zeit, den Brief zu öffnen. Mit hastigen Bewegungen riß er den Umschlag auf und zog das Blatt Papier heraus. Er überflog die Zeilen, knüllte das Papier zusammen und ging nach nebenan, wo er es in der Feuerstelle verbrannte.
„Ein leichter Auftrag“, sagte er, als er zurückkehrte. „Das wird im Handumdrehen erledigt sein. Kümmern wir uns jetzt wieder um unsere Arbeit.“
Öbül nickte wortlos und begab sich an seinen Platz, wo er eine Versuchsreihe vorbereitet hatte. Es ging darum, die Brenneigenschaften von Lunten in verschiedenen Gehäusen zu testen – unter Glas, in Holz- und Eisenbehältern.
Die erforderliche Luftzufuhr, darauf hatte Ayasli ausdrücklich hingewiesen, mußte ausreichend bemessen werden. Andererseits mußte gewährleistet sein, daß die Ladung nicht vorzeitig explodierte.
Öbül wußte, daß sein Herr ein Meister seines Faches war – eines Faches, das selbst in einer Riesenstadt wie Istanbul außer ihm niemand beherrschte. Und Süleyman Ayasli arbeitete nach dem Grundsatz, bei einem Tötungsauftrag niemals zu versagen.
Bislang hatten seine Bomben mit vorausberechnetem Zündzeitpunkt immer präzise funktioniert.
Die Sonne brannte auf den Platz, auf den die Gassen sternförmig mündeten. Eine dichte Menschentraube hatte sich gebildet. Sie nahm nahezu die gesamte Fläche ein, und jene, die sich am Rande drängten, hatten vorerst noch keine Chance, vom Zentrum des Geschehens auch nur das geringste zu sehen. Aber alle wußten dennoch, daß sie nicht benachteiligt werden würden.
Münnever Yildiz hatte ein Herz für jeden einzelnen von ihnen.
Deshalb wachte sie persönlich darüber, daß niemand bevorteilt, aber auch niemand benachteiligt wurde. Ihre einspännige Kutsche stand zwischen den beiden großen Frachtwagen, die in der Mitte des Platzes aufgefahren waren.
Münnever, eine schlanke, dunkelhaarige Frau mit sanft blickenden braunen Augen, hatte das Verdeck ihrer Kutsche herunterklappen lassen, so daß sie das Geschehen leicht beobachten konnte.
Ihre Helfer arbeiteten unermüdlich vor den offenen Ladeflächen der Frachtwagen. Frisch gebackene Brote verteilten die einen, eine nahrhafte Gemüsesuppe mit viel Fleischeinlage die anderen. Die Suppe war in großen Kübeln herbeigeschafft worden. Die Menschen, die in Reihe anstanden, hatten jeweils kleine Kannen oder Schüsseln mitgebracht, in die sie ihre Ration füllen ließen.
Münnever Yildiz, der Frau des Großkaufmanns Kemal Yildiz, wurde es jedesmal von neuem warm ums Herz, wenn sie die dankbaren Blicke der armen Menschen sah. Sobald sie mit gefülltem Suppenbehälter den Wagen zur Linken verließen und die Kutsche passierten, verneigten sie sich tief, ehe sie zum Wagen mit den Brotlaiben weitergingen.
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