„Wieder zurück“, sagte Carberry erbittert. „In dem anderen Stinksee gab es sicher noch mehr Nebenarme, die wir übersehen haben. Wenn wir aus dieser Pißrinne heraus sind, markieren wir ihren Anfang, damit uns dasselbe nicht noch einmal passiert.“
„Uns wird nichts anderes übrigbleiben, als den gesamten See genau abzusuchen“, meinte Martin. „So, wie es aussieht, werden wir uns wohl noch ein paarmal verfranzen, bevor wir den Creek finden, der zur North Bight führt.“
„Und was essen wir inzwischen?“
„Kannst ja mal bei den angeblichen Kannibalen nachfragen“, sagte der Kutscher mit süß-saurer Stimme. „Vielleicht haben sie irgendwo noch einen geräucherten Missionar rumhängen. Wenn wir dageblieben und nicht getürmt wären, hätte sich jetzt bestimmt alles aufgeklärt. Wir hätten etwas zu essen und zu trinken erhalten und vielleicht ein paar neue Freunde gewonnen.“
Der Profos begann ungeniert aus vollem Hals zu lachen. Aber es war ein grimmiges Lachen.
„Das ist nicht die Insel des Heiligen Geistes“, sagte er, „das ist die Insel der Heiligen Einfalt, und du bist der Heilige Pinsel, wenn du immer noch an den Stuß von den Freunden glaubst die uns umhegt und umsorgt hätten. Einen Scheiß hätten die! Du würdest jetzt nicht mal mehr mit der Nase aus dem Kessel rausgucken, und deine Haut würde jetzt wahrscheinlich in Streifen am nächsten Baum zum Trocknen hängen und so.“
„Und was, bitte, sollten die Indianer mit Menschenhäuten anfangen, falls die Frage gestattet ist?“
Es sah wieder einmal nach einem Nahkampf zwischen Kutscher und Carberry aus, weil der eine hartnäckig das leugnete, wovon der andere restlos überzeugt war.
„Weiß ich nicht. Vielleicht gibt das Sehnen für ihre Bogen. Oder sie hängen ihre Wäsche daran auf.“
„Du hast ja sehr merkwürdige Ansichten.“
„Du auch!“ schnappte Carberry. „Du freust dich offenbar noch darüber, wenn du den Kerlen als Futter dienen kannst.“
Sven, Nils und Martin hieben die Paddel ins Wasser. Alle grinsten, auch die Zwillinge, aber jetzt war keine Zeit, um sich gegenseitig anzustänkern. Sie mußten hier heraus, so schnell wie möglich, denn hier konnten sie verhungern oder verdursten, obwohl letzteres der häufigen Regenfälle wegen ziemlich unwahrscheinlich war.
Es ging wieder denselben Weg zurück, bis sie nach einer Ewigkeit erneut in dem größeren See waren.
Kaum hatten sie denkleinen Nebenarm verlassen, da flogen wieder ganze Scharen von rosaroten Flamingos auf. Nur ein paar von ihnen blieben auf ihren Schlammnestern hocken, um ihre Eier auszubrüten. Die anderen flogen als riesige Wolke davon.
„Paddeln wir mal zu den Mangroven hinüber“, schlug der Kutscher vor. „Da scheint es nochmals einen Creek zu geben.“
Im See, der glatt und still vor ihnen lag, spiegelten sich die Wolken. Genau wie am Himmel zogen sie dahin. Die Mangroven, Dickichte, Palmen und Bäume spiegelten sich in allen Farben im Wasser.
Dicht vor dem Schlamm der Mangroven brummte das Kanu sanft auf.
„Auch das noch!“ fluchte der Profos. Er sah den Kutscher an, der angelegentlich und ungerührt die seltsamen Pflanzen betrachtete.
„Mangroven sind sozusagen Selbstmörder-Pflanzen“, dozierte er, „obwohl sie Pioniere der Landgewinnung sind. Sie gedeihen vorzüglich in den Übergangszonen zwischen Land und Salzwasser. Seht nur, wie sich in ihren Wurzeln der Schlick fängt. Andere Blätter werden herübergeweht, fallen dazwischen und vermodern. Gleichzeitig fügen sie Nährstoffe hinzu, bis fruchtbarer Boden entsteht. Diese Keimlinge da fallen ab und bohren sich wie ein Speer in den Untergrund. Das geschieht immer direkt vor den alten Pflanzen.“
„Und das nennst du Selbstmörder-Pflanzen?“ fragte Carberry.
„Ja, letztendlich bringen sie sich selbst um. Manche Sämlinge fallen auch ins Wasser, treiben davon und streifen so lange über den Boden, bis sie hängenbleiben. Kurze Zeit später wurzeln sie und bilden wenig später eine neue Kolonie. Damit beginnt gleichzeitig der erneute Landgewinnungsprozeß.“
„Wie fein“, höhnte Carberry. „Und was haben wir davon, wenn wir das jetzt wissen?“
Der Kutscher, ein feinsinniger Mann, der immer sehr genau überlegte, ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.
„Wir haben auch etwas davon. Diese Mangroven also sammeln so lange Boden an, bis sie in der Trockenheit und Höhe gefangen sind, denn dann fehlt ihnen das lebensnotwendige Wasser. Sie sterben wieder ab, und andere Sträucher und Pflanzen nehmen ihren Platz ein. Ist doch ganz interessant, oder?“
Der Profos riß die Klappe auf und gähnte demonstrativ, um auszudrücken, wie sehr ihn das alles faszinierte.
„Sehr interessant, um damit die Zeit zu vertrödeln“, sagte er. „Die Ausführungen Euer Hochwohlgeboren haben mich sehr beeindruckt, obwohl es mich wesentlich mehr beeindruckt hätte, einen neuen Creek zu finden. Statt dessen hält der Entenarsch hier Vorträge ab.“
„Entenarsch!“ krächzte Sir John sofort. Oft plapperte er die Schimpfworte sofort nach, viele vergaß er auch wieder.
„Der sogenannte neue Creek befindet sich da drüben, wo keine Mangroven wachsen“, sagte der Kutscher kühl. „Ich habe nämlich, ausgerechnet, welchen Weg die Sämlinge übers Wasser nehmen. Infolgedessen geht da auch eine ganz seichte Strömung. Später einmal wird dieser Teil restlos versanden, aber da drüben stecken ganz junge Mangroven im Boden. Dort zieht die Strömung hin, und in ein paar Jahren ist der Teil ein einziger Mangrovenhain. Dann kann man in den Creek auch nicht mehr hineinpaddeln. Das, mein lieber Ed, werden wir jetzt feststellen. Sollte meine Annahme nicht zutreffen, bin ich selbstverständlich bereit, dir recht zu geben.“
„Da ist aber, verdammt noch mal, kein Bach zu sehen.“
Sie paddelten aber trotzdem dorthin, wo die jungen Sämlinge im Wasser standen.
Diesmal klappte dem Profos glatt der Unterkiefer weg, denn hinter einem wie getarnt aussehenden Gestrüpp zog sich ein neuer Creek dahin.
„Jaja“, sagte der Kutscher grinsend, als er Carberrys knallrot angelaufenen Schädel sah, „ne ventis verba profundam.“
„Genau“, sagte Carberry sehr bescheiden. „Und was heißt das?“
„Das heißt: Gib, daß ich nicht in den Wind spreche.“
„Ah ja.“ Carberry kratzte sich am linken Ohr und blickte sehr unbehaglich drein. Dieser Lümmel von einem Kutscher hatte es ihm wieder mal gesteckt, aber das zahlte er irgendwann einmal zurück. Immerhin hat er durch seine tiefsinnigen Betrachtungen wieder einen Flußlauf entdeckt, und das soll ihm erst mal einer nachmachen, sinnierte der Profos. Ein verdammt gescheites Bürschlein war dieser schmalbrüstige Kutscher, auch wenn ihn seine verflixten Sprüche manchmal auf die Palme trieben und er seine Überlegenheit mit einem Grinsen abtat.
„Leider kann ich keine Garantie dafür übernehmen, wo wir landen“, sagte der Kutscher. „Aber vorerst ging es ja nur darum, in dieser Wildnis ein neues Bächlein zu entdecken. Das haben wir.“
„Ja, das haben wir“, murmelte Carberry und merkte verärgert, daß es ihm fast so ging wie dem Stör, der immer die letzten Worte des Wikingers Thorfin Njal nachquatschte.
Auch dieser Creek war nicht sehr ergiebig, wie sie bereits nach einer Viertelstunde feststellten. Auch hier brummten sie plötzlich ganz sanft auf, wie das vorhin der Fall gewesen war. Aber durch eine einfache Gewichtsverlagerung wurde das Kanu wieder flott.
„Hier ist der Fahnenmast zu Ende“, verkündete Old O’Flynn, als ob das noch einer Feststellung bedurfte. Vor ihnen war alles zugewachsen und ging in morastigen Brei über. Noch weiter vorn wurde es sumpfig und matschig, das Wasser des Creeks teilte sich in unzählige kleine Rinnsale. Aber überall wuchsen die Sämlinge der Mangroven.
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